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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Stufe kennt: höllisch. Mir klebte das einzige weiße Hemd, das ich besaß, unangenehm am Rücken, und ich hätte bestimmt die Krawatte gelockert, wäre ich sicher gewesen, dass ich sie wieder in Form bringen könnte. Ich trug den einzigen Anzug, den ich besaß, in Dunkelblau: für Freud und Leid, sozusagen. Eine Anschaffung, die ich vorausschauend für die Bestattung meiner Eltern getätigt hatte, doch sie hingen verbissen am Leben, und so war dies hier die erste Gelegenheit, ihn zu tragen. Auf jeden Fall fand ich, dass er dafür taugte, selbst darin beerdigt zu werden, weil er meine sterblichen Überreste in der kalten Erde schön warm halten würde. Auf halber Höhe zum Klinikgelände jedenfalls schwor ich mir, ihn nie wieder zu tragen, egal, wie empört meine Schwestern wären, wenn ich zum Leichenschmaus, den sie für unsere Eltern ausrichteten, in Shorts und einem unverschämt schrillen Hawaiihemd erschien. Doch was konnten sie letztlich sagen? Schließlich bin ich der Irre in der Familie. Eine allzeit verfügbare Entschuldigung für schlechtes Benehmen.
    Es war eine bauliche Kuriosität, dass das Western State Hospital auf der Kuppe eines Hügels mit Blick auf den Campus eines berühmten Frauen-College stand. Die Klinikbauten äfften das College nach – viel Efeu und Backstein und weiß gerahmte Fenster an den rechtwinkligen drei-und vierstöckigen Wohnheimen, die je einen quadratischen Platz mit Bänken und kleinen Ulmengruppen einschlossen. Ich hatte immer den Verdacht gehegt, dass beide Bauvorhaben von denselben Architekten ausgeführt worden waren und der Bauunternehmer für die Klinik einfach Material vom College abzweigte. Aus der Vogelperspektive hätte man annehmen können, die Klinik und das College gehörten mehr oder weniger zusammen. Besagtem Vogel wäre es wohl entgangen, wie sehr sich ein Campus vom anderen unterschied, was man nur beim Betreten der jeweiligen Gebäude feststellen konnte. Da waren die Unterschiede dann nicht mehr zu übersehen.
    Die physische Demarkationslinie bildete eine einspurige schwarze, geteerte Straße – die nicht einmal über einen Bürgersteig verfügte und sich eine Seite des Hügels hinaufschlängelte – einerseits, und ein Reitgehege am gegenüberliegenden Hang, wo die besser situierten unter den gut situierten Studenten ihre Pferde bewegten – andererseits. Ich sah, dass die Ställe und Hürden immer noch da waren, wo ich sie vor zwanzig Jahren zuletzt gesehen hatte. Ein einsamer Reiter machte mit seinem Tier die Gangarten durch, indem er endlos um das Oval unter der Frühsommersonne kreiste und dann zu den Sprüngen beschleunigte. Ein Möbiusband der Aktivität. Ich hörte den schweren Atem des Tiers, das sich in der Hitze abmühte, und sah einen langen, blonden Pferdeschwanz unter dem schwarzen Helm der Reiterin. Ihre Bluse war dunkel verschwitzt, und die Flanken des Tiers schimmerten feucht. Beide schienen die Ereignisse über ihnen, weiter den Hügel hinauf, nicht wahrzunehmen. Ich ging an ihnen vorbei auf das leuchtend gelb gestreifte Zelt zu, das auf dem Innenhof direkt hinter der hohen Backsteinmauer und dem Eisentor zur Klinik errichtet worden war. Auf einem gedruckten Plakat stand ANMELDUNG .
    Eine korpulente, allzu wohlmeinende Dame hinter einem Spieltisch stattete mich mit einem Namensschildchen aus, das sie mir mit einer eleganten Geste am Revers feststeckte. Außerdem überreichte sie mir eine Mappe mit zahlreichen Zeitungsartikeln zu den Bauvorhaben auf dem alten Klinikgelände: Eigentumswohnungen und exklusive Häuser, da das Gelände über einen Blick aufs Tal und den Fluss in der Ferne verfügte. Ich fand das irgendwie seltsam. In all der Zeit, die ich dort verbracht hatte, konnte ich mich nicht erinnern, das blaue Band des Flusses in noch so großer Ferne je gesehen zu haben. Natürlich konnte es sein, dass ich es ohnehin für eine Halluzination gehalten hätte. Die Mappe enthielt außerdem einen kurzen Abriss der Klinikgeschichte und ein paar körnige Schwarzweißfotos von Patienten bei der Behandlung oder beim Aufenthalt in den Tagesräumen. Ich suchte die Bilder nach mir vertrauten Gesichtern ab, meinem eigenen inbegriffen, erkannte aber niemanden wieder, außer dass ich alle wiedererkannte. Wir waren nun mal alle gleich, wie wir in unterschiedlichen Stadien der Bekleidung und Medikation durch die Flure schlurften.
    Die Mappe enthielt auch ein Veranstaltungsprogramm, und ich sah eine Reihe von Leuten auf ein Gebäude zustreben, in dem sich

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