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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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irgendeinem mir nicht einleuchtenden Schuldgefühl geplagt, versuchen, etwas für mich zu tun, indem sie die Kleiderschränke ihrer Ehemänner plündern. Sie haben mir
secondhand
einen Fernseher gekauft, in dem ich ebenso selten etwas ansehe, wie ich etwas in ihrem Radio höre. Alle paar Wochen kommen sie zu Besuch, bringen sie leicht eingedickte, selbstgekochte Mahlzeiten in Tupperschüsseln mit, und wir reden eine Weile verlegen miteinander, meist über meine betagten Eltern, die wenig Neigung verspüren, mich zu sehen, weil ich sie an die enttäuschten Hoffnungen und die Bitterkeit erinnere, die das Leben so unerwartet mit sich bringt. Ich kann damit leben und versuche, mich von ihnen fern zu halten. Meine Schwestern sorgen dafür, dass die Heizungs-und Stromrechnungen bezahlt werden. Sie stellen auch sicher, dass ich nicht vergesse, die dürftigen Schecks einzulösen, die von verschiedenen staatlichen Hilfsorganisationen kommen. Und sie fragen lieber zweimal nach, damit ich auf alle Fälle meine Medikamente nehme. Manchmal weinen sie, glaube ich, wenn sie sehen, in welcher Hoffnungslosigkeit ich lebe, doch das ist ihre Sichtweise, nicht meine, denn tatsächlich führe ich ein ziemlich komfortables Leben. Verrückt zu sein gewährt eine recht interessante Sicht auf das Leben. Auf jeden Fall ist man besser in der Lage, gewisse Dinge hinzunehmen, die das Schicksal für einen bereithält, außer wenn die Wirkung der Medikamente ein wenig nachlässt, denn dann kann ich darüber, wie das Leben mit mir umgesprungen ist, ziemlich sauer werden.
    Meistens aber habe ich Verständnis, wenn ich auch nicht eben glücklich bin.
    Und mein Dasein gewährt mir faszinierende Einblicke, so dass ich zum Beispiel zu einem intimen Kenner der Vorgänge in dieser kleinen Stadt geworden bin. Man würde kaum für möglich halten, was ich bei meinen täglichen Wanderungen alles mitbekomme. Solange ich die Augen offen halte und die Ohren spitze, schnappe ich alles Mögliche auf. Seit meiner Entlassung aus der Klinik, seit all das, was mir dort bevorstand, nunmehr hinter mir liegt, wende ich das Gelernte an, indem ich meine Beobachtungsgabe kultiviere. Während ich meine Tagesrouten abmarschiere, erfahre ich, wer eine schäbige kleine Affäre mit welchem Nachbarn hat, wessen Ehemann ausgezogen ist, wer zu viel trinkt, wer seine Kinder verprügelt. Ich kann genau sagen, wessen Geschäft ums Überleben kämpft und wer, durch Erbschaft oder Lotteriegewinn, zu etwas Geld gekommen ist. Ich weiß, welcher Teenager auf ein Football-oder Basketball-College-Stipendium hofft und welcher andere Teenager für ein paar Monate zu einer entfernten Tante geschickt wird und sich dort vielleicht um eine unverhoffte Schwangerschaft kümmern muss. Ich habe herausgefunden, welcher Cop einen in Ruhe lässt und welcher schnell den Knüppel oder den Strafzettel zückt, je nachdem, um welches Vergehen es sich handelt. Und dann sind da noch alle die weniger bedeutenden Ereignisse, die damit zu tun haben, wer ich bin und zu wem ich geworden bin – zum Beispiel die Friseuse, die mich kurz vor Ladenschluss hereinwinkt, um mir die Haare zu schneiden, damit ich auf meinen täglichen Wanderungen manierlicher aussehe, und die dann auch noch von ihrem Trinkgeld fünf Dollar für mich abzweigt; oder der Filialleiter von McDonald’s, der mich vorbeigehen sieht und mir mit einer Tüte Burger und Fritten nachrennt und dem zu Ohren gekommen ist, dass ich lieber Vanille-als Schokoladen-Shakes trinke. Als Verrückter herumzulaufen verschafft einem die klarste Sicht auf die menschliche Natur; ein bisschen ist es so, als strömte die Stadt an einem vorbei wie das Wasser am Fischtreppen-Fenster.
    Und es ist ja nicht so, als würde ich mich nicht nützlich machen. Einmal habe ich gesehen, dass ein Fabriktor offen stand, das normalerweise abgeschlossen war, und ich fand einen Polizisten, der die Lorbeeren für den angeblich durch ihn vereitelten Einbruch einheimste. Als ich mir allerdings eines schönen Frühlingsnachmittags das Kennzeichen eines Mannes merkte, der einen Radler überfuhr und, während sein Opfer bewusstlos auf der Straße lag, Fahrerflucht beging, zollte die Polizei mir mit einer Urkunde Dank. Unter der etwas peinlichen Rubrik »Gespür für seinesgleichen« darf ich es wohl verbuchen, dass ich an einem Wochenende im Herbst auf meinem Weg an einem Park mit spielenden Kindern vorbei einen Mann ins Visier bekam und an der Art, wie er am Eingang herumlungerte, sofort

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