Die Anstalt
unausweichlich es war. Ich hab ihr nur noch ein bisschen Mut gemacht, bis sie es hinter sich gebracht hatte, und hab ihren Tod zu meinem Vorteil genutzt. Ich hab ihr die Türen aufgemacht, bin ihr nach draußen gefolgt und hab zugesehen, wie sie ins Treppenhaus lief …«
»Wo war die diensthabende Schwester?«
»Hat gepennt, C-Bird. Die Füße hochgelegt, den Kopf zurückgelehnt, war weggedöst und hat geschnarcht. Meinst du wirklich, irgendeiner von euch wär denen wichtig genug, um euretwegen wach zu bleiben?«
»Aber wieso hast du sie hinterher verstümmelt?«
»Um dir zu zeigen, was du dann ja auch vermutet hast, C-Bird. Um dir zu zeigen, dass ich sie hätte töten können. Aber vor allem, weil ich wusste, dass alle sich darüber in die Haare kriegen würden, dass jeder daraus ablesen würde, was seine eigene Auffassung bestätigte. Zweifel und Verwirrung sind wirklich hilfreiche Verbündete, C-Bird, wenn man etwas perfekt und präzise plant.«
»Mit einer Ausnahme«, flüsterte ich. »Du hast nicht mit mir gerechnet.«
Er knurrte und erwiderte: »Aber deshalb bin ich schließlich jetzt gekommen, C-Bird. Es geht um dich.«
Kurz vor zehn Uhr abends lief Lucy eilig über das Klinikgelände Richtung Amherst-Gebäude, um die nächtliche Spätschicht zu übernehmen, die nur von einer einzigen Schwester bestritten wurde. Die Friedhofsschicht, wie sie in den Zeitungsredaktionen und Polizeiwachen hieß. Es war eine grässliche Nacht, irgendwo zwischen schwüler Hitze und einem bevorstehenden Gewitter, und sie senkte den Kopf und musste unwillkürlich denken, das ihre weiße Kluft ein Einschnitt in ihrer dunklen Umgebung war. In der rechten Hand hatte sie einen Schlüsselring, der bei jedem zügigen Schritt auf ihrem Weg klirrte. Über ihr neigte und wiegte sich eine Eiche, und sie hörte die Blätter in einer Brise rascheln, die sie nicht fühlen konnte und die in der stehenden, feuchten Nachtluft falsch zu sein schien. Sie hatte sich die Handtasche mit der geladenen Pistole über die rechte Schulter geworfen, was ihr etwas Kesses verlieh und ganz und gar nicht dazu passte, wie sie sich fühlte. Sie ignorierte einen Schrei, der verzweifelt und einsam klang und aus einem der anderen Wohnheime zu kommen schien.
Lucy zog die beiden Schließriegel am Haupteingang des Amherst auf und drückte die Schulter an das schwere Holz, um mit einem ratschenden Geräusch die Tür aufzuschieben. Einen Moment lang war sie verdutzt. Bisher war ihr jedes Mal, wenn sie ins Gebäude kam, sei es im Flur oder in ihrem Büro, der Lärm der vielen Menschen entgegengeschlagen, und die helle Beleuchtung hatte sie geblendet. Jetzt aber, obwohl noch gar nicht so spät, war alles völlig verändert. Was sonst überfüllt und voller Hektik war, voll aufgestauter Energie aus Wahn und fehlgeleiteten Gedanken, lag nunmehr ruhig da, wenn man von dem einen oder anderen gespenstischen Schrei absah, der durch die Korridore hallte. Der Flur wirkte fast schwarz; durch die Fenster drang aus den anderen, entfernten Gebäuden spärliches Licht, das kleine Bereiche der Dunkelheit zu einem erträglichen Grau abmilderte. Die einzige wirkliche Helligkeit im Flur ging von einem kleinen Lichtkegel hinter der verschlossenen Tür der Pflegestation aus, wo eine Schreibtischlampe schimmerte.
Sie sah eine Gestalt aus der Pflegestation kommen und atmete langsam aus, als sie erkannte, dass Little Black sich hinter dem Schreibtisch erhob und die Drahttür öffnete.
»Auf die Minute pünktlich«, sagte er.
»Würde mir das hier um nichts in der Welt entgehen lassen«, sagte sie in gespieltem Draufgängertum.
Er schüttelte den Kopf. »Ich vermute mal, dass Sie nichts weiter als eine lange, öde Nacht vor sich haben«, sagte er. Damit wies er auf die Gegensprechanlage auf seinem Tisch. Sie war altmodisch, eine kleine Box mit einem Ein-/Aus-Schalter an der Oberseite sowie einer Skala, um die Störgeräusche zu reduzieren. »Das hier hält die Verbindung zu mir und meinem Bruder oben«, sagte er. »Aber wir müssen wirklich hören, wie Sie klar und deutlich dieses Apollo-Wort da reinflöten, denn diese Dinger sind zehn, zwanzig Jahre alt, und sie funktionieren nicht mehr allzu gut. Auch das Telefon ist mit oben verbunden. Wählen Sie einfach zwei null zwei, und es klingelt. Wissen Sie, was? Wenn Sie es zweimal klingeln lassen und dann auflegen, verstehen wir das auch als Signal und kommen angerannt.«
»Zwei null zwei. Alles klar.«
»Aber das werden Sie bestimmt
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