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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Zähnen. »Sag’s mir!«, rief ich wieder, so laut ich konnte.
    Da flüsterte mir eine gefährlich leise Stimme ins Ohr: »Du kennst die Antworten, C-Bird. Du konntest sie in jener Nacht schon sehen. Du willst es nur nicht wahrhaben, stimmt’s, Francis?«
    »Nein«, brüllte ich.
    »Du willst nicht sagen, was C-Bird in jener Nacht auf seinem Bett gewusst hat, weil es bedeuten würde, dass Francis sich jetzt das Leben nehmen muss, nicht wahr?«
    Ich konnte nicht antworten. Tränen und Schluchzen zuckten durch meinen Körper.
    »Du musst sterben. Was bleibt dir anderes übrig, C-Bird? Denn du hast in der Nacht damals die Antworten gewusst, oder etwa nicht?«
    Ich fühlte, wie mir die Agonie spiralenförmig durch den ganzen Körper kroch, und flüsterte die einzige Antwort, die vielleicht die Stimme des Engels zum Verstummen bringen konnte.
    »Es ging gar nicht um Short Blond, nicht wahr?«, fragte ich. »Von Anfang an ging es nicht um sie.«
    Er lachte. Ein Lachen, das die Wahrheit bestätigte. Ein schreckliches, reißendes Geräusch, als würde etwas zerbrochen, das irreparabel war.
    »Was hat C-Bird in jener Nacht denn noch gesehen?«, fragte der Engel.
    Ich erinnerte mich, wie ich im Bett lag – mehr als reglos, so erstarrt wie ein katatonischer Patient angesichts einer Schreckensvision von der Welt. Ich wollte mich nicht rühren, ich wollte nicht sprechen, ich wollte nichts weiter als atmen, denn während ich dort lag, sah ich die ganze Todeswelt, die der Engel sich ausgedacht hatte. Peter war an der Tür. Lucy war in der Pflegestation. Die Moses-Brüder waren oben. Jeder war allein, isoliert und verletzlich. Und wer am meisten? Lucy.
    »Short Blond«, stammelte ich. »Sie war nur …«
    »Ein Teil in einem Puzzle. Du hast das damals gesehen, C-Bird. Und diese Nacht ist genauso wie damals.« Die Stimme des Engels dröhnte vor Autorität.
    Ich konnte kaum sprechen, weil ich wusste, dass die Worte, die ich in diesem Moment begriff, mit denen, die mir vor Jahren in den Sinn kamen, identisch waren. Eins. Zwei. Drei. Und dann Short Blond. Was bewirkten alle diese Tode? Sie brachten unweigerlich Lucy an einen Ort, an dem sie allein, im Dunkeln, inmitten einer fremden Welt auf sich gestellt war, die sich Logik, Vernunft und planungsvoller Organisation entzog, egal, was Gulptilil oder Evans oder Peter oder die Moses-Brüder oder sonst jemand, der im Western State Hospital das Sagen hatte, davon halten mochten. Es war eine arktische Welt unter dem Diktat des Engels.
    Der Engel grollte und trat nach mir. Bis dahin war er nebulös, gespenstisch gewesen, doch dieser Tritt saß. Ich stöhnte vor Schmerz und rappelte mich gleich wieder auf die Knie hoch, um zur Wand zurückzukriechen. Ich konnte kaum den Stift zwischen den Fingern halten. Und das lag daran, was ich in jener Nacht in der Dunkelheit gesehen hatte.
    Es ging auf Mitternacht zu. Stunden, die immer langsamer und schließlich im Kriechtempo vergingen. Eine Umnachtung, die alles um ihn her erfasste. Francis lag steif da und durchforschte in Gedanken das, was er wusste. Eine Mordserie, die Lucy in die Klinik lockte, und jetzt befand sie sich mit kurz geschnittenem, blondiertem Haar hinter der Tür und wartete auf den Killer. Alle möglichen Todesfälle und Fragen. Und wie lautete die Antwort? Sie schien ihm nahe zu sein und doch auch wie eine Vogelfeder in der Brise, nach der man schnappt und ins Leere greift.
    Er drehte sich auf dem Bett um und sah zu Peter hinüber, der den Kopf in die auf den Knien verschränkten Arme stützte. Francis vermutete, dass die Erschöpfung bei ihm am Ende doch die Oberhand gewonnen hatte. Er hatte nicht den Vorteil wie Francis, dem Angst und Schrecken den Schlaf vertrieben.
    Francis wollte ihm gerne erklären, dass ihm jetzt alles klar geworden sei, doch als er den Mund aufmachte, versagte ihm die Stimme. Und in die Stille der Verzweiflung hörte er genau in dem Moment unverkennbar, wie das zuvor geöffnete Schloss der Schlafsaaltür einrastete.

32
    V om Geräusch der zuschnappenden Tür schnellte Peters Kopf in die Höhe. Er schüttelte sich kurz und sprang auf die Beine, während er sich fragte, wie er hatte einschlafen können, so dass er die gedämpften Schritte jenseits der Tür überhörte. Er legte die Hand auf den Knauf und drückte die Schulter an die Tür und hoffte eine Sekunde lang, das Geräusch, das ihn aufschrecken ließ, sei Teil eines Traums im Halbschlaf gewesen. Der Knauf drehte sich, doch die Tür gab nicht nach,

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