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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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rufen. Aber er war zu schwach.
    Auf einer weitläufigen Lichtung erwartete er den Einbruch der Dunkelheit. Über sein Schicksal machte er sich keine Illusionen. Er empfand sogar ein schwaches Gefühl der Dankbarkeit dafür, daß es so gekommen war, hier, wo wenigstens noch eine Ahnung in ihm lebte, was einst gewesen war, und daß er nicht in einem steckengebliebenen Aufzug geendet hatte.
    Und dennoch. Etwas in ihm glaubte nicht, daß dies das Ende war.
    Er zog eine Karte aus der Tasche.
    Schlaf , las er.
    Er zerknüllte sie zwischen den Fingern.
    Er hatte oft über das Sterben nachgedacht. Monatelang vermochte er die schwarze Wand, die wartete, wegzuschieben, dann wieder kamen die Gedanken jeden Tag, jede Nacht. Was war das, der Tod? Ein Scherz, den man erst danach verstand? Böse? Gut? Und wie würde es ihn treffen? Auf eine scheußliche Art oder auf eine gnädige? Würde eine Ader in seinem Kopf platzen, und würden ihm die Schmerzen den Verstand nehmen? Würde er ein Stechen in der Brust fühlen, einen Schlag, und umkippen? Würde er Krämpfe in den Gedärmen haben und sich aus Angst vor dem Bevorstehenden übergeben? Würde ihn ein Verrückter niederstechen, so daß er noch Zeit hätte zu begreifen, was mit ihm geschah? Würde ihn eine Krankheit martern, würde er mit dem Flugzeug vom Himmel fallen, mit dem Wagen gegen einen Pfeiler krachen? Fünf, vier, drei, zwei, eins, null? Oder fünf. vier. drei. zwei. eins. null? Oder fünfvierdreizweieinsnull?
    Oder würde er alt werden und einschlafen?
    Und gab es jemanden, der es jetzt schon wußte?
    Und stand es jetzt schon fest? Oder konnte er noch etwas daran ändern?
    Egal, was passierte, so hatte er gedacht, es würde Menschen geben, die an ihn denken würden und die darüber nachsannen, daß es ihn nun auf diese und keine andere Art getroffen hatte. Daß er sich ja immer gefragt hatte, wie es geschehen würde, und daß sie es nun wußten. Und wie es ihnen, ihnen selbst wohl dereinst ergehen mochte.
    Das würde also nicht so kommen. Niemand würde über seinen Tod nachdenken. Niemand würde wissen, wie er gestorben war.
    Ob sich Amundsen auf seiner Eisscholle oder im Wasser oder auf seinem Floß aus Flugzeugflügeln, oder wo immer es passiert war, zuletzt dasselbe gefragt hatte? Oder hatte er angenommen, man würde seine Leiche finden? Aber Roald, man hat sie nicht gefunden. Du bist weg.
    Kaum sah er die Hand noch vor den Augen. Nach dem Gewehr, das neben ihm in der Wiese lag, faßte er dennoch nicht. Er lag auf dem Rücken und starrte ins Dunkel.
    Was würde werden, hatte er sich gefragt. Würde es ihn hinüberziehen? Oder würde er erlöschen?
    Gleichgültig, wohin er ging: Immer hatte er sich gewünscht, daß sein letzter Gedanke der Liebe gehören sollte. Liebe als ein Wort. Liebe als ein Zustand. Liebe als ein Prinzip. Liebe sollte sein letzter Gedanke und seine letzte Empfindung sein, ein Ja und kein Nein, egal, ob er sich nur transportierte oder ob er zum Stillstand kam. Und er hatte immer gehofft, daß es ihm dann gelingen würde, daran zu denken. An die Liebe.

21
    Er erwachte, weil er Kälte spürte und Tropfen auf dem Gesicht. Er öffnete die Augen, ohne zu verstehen, wo er sich befand. Dann begriff er, daß er im Wald war und daß es zu regnen begonnen hatte. Es war Tag. Hinter einer grauen Wolkenmasse schimmerte die Sonne als matter Fleck. Er schloß die Augen wieder, ohne sich zu bewegen.
    Etwas in ihm hieß ihn aufstehen. Ohne zu überlegen, schlug er eine bestimmte Richtung ein. Er stützte sich auf das Gewehr, schleppte sich über Hügel, kletterte über Zäune, stolperte durch schlammige Mulden. Er kam an einem Schuppen vorbei, blieb jedoch nicht stehen. Er hatte das Gefühl, nicht von seinem Weg abweichen zu dürfen. Wie durch einen Schleier nahm er wahr, daß der Regen heftig auf ihn einprasselte. Jedes Zeitgefühl hatte ihn verlassen. Ob er eine Stunde marschierte oder vier – er wußte es nicht.
    Vor ihm öffnete sich ein Tal. Er sah Häuser. Zuerst erkannte er das Gasthaus. Er fühlte keine Erleichterung. Er spürte den Wind und den Regen auf der Haut.
    Er riß die Augen auf. Ringsum waren keine Bäume zu sehen. Er befand sich nicht im Wald. Er lag vor dem Gartenzaun des Ferienhauses.
    Er stand auf, blickte an sich herab. Die Kleidung war zerfetzt. Die Unterarme waren von kleinen roten Rissen überzogen. Die Fingernägel hatten Trauerränder, als habe er mit Motoröl hantiert. Der Hut fehlte ihm. Aber es sah aus, als sei er im wesentlichen

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