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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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glaubte. Zu seiner Verwirrung erklang es nun beim drittenmal wieder links von ihm. Erneut lief er darauf zu. Er dachte nicht darüber nach, was er vorfinden würde, und er wußte nicht, was er dann zu tun gedächte. Er lief einfach weiter.
    Nachdem das Läuten zum sechstenmal erklungen war, hatte er Zweifel, ob er darauf zu- oder davor weglief.
    »Hooo!«
    Er bekam keine Antwort. Auch das Glöckchen blieb stumm.
    Er ließ den Blick schweifen. Ein Drillingsbaum fiel ihm auf. Etwas sagte ihm, daß er dort richtig war. Er passierte den Baum, teilte ein Gebüsch. Dahinter trat er auf eine kleine Lichtung. In der Mitte stand eine einzelne Birke. Von einem Ast hing die Glocke herab.
    Er suchte die Umgebung ab, ehe er sich der Glocke näherte. Sie hing an einem verblüffend dünnen Faden. Sie war aus Metall. An den Rändern zeigten sich Rostflecken. Nichts wies darauf hin, wie lange sie bereits hier baumelte, wer sie aufgehängt hatte. Nur eines stand fest: Sie läutete, weil der Wind sie bewegte.
    Ihm kam ein Gedanke, wie sie hierhergeraten sein mochte. Aber diese Theorie war zu häßlich, um sie zu glauben.
    Er suchte nach dem Weg, auf dem er gekommen war. Er war zu weit gelaufen und mußte sich neu orientieren. Bald glaubte er zu wissen, wo er sich befand und wo er auf einen Pfad stoßen würde. Er schlug die entsprechende Richtung ein. Als er nach zehn Minuten nur noch tiefer in den Wald gelangt war, stieg das Gefühl von vorhin in ihm auf.
    »Meister Etzel, kommst du mich holen?«
    Er wollte seiner Stimme eine ironische Farbe verleihen. Sie klang weniger fest, als er sich wünschte.
    Er blickte zurück. Dichter Wald. Er wußte nicht einmal, aus welcher Richtung er gerade gekommen war.
    Er lief geradeaus weiter. Immer geradeaus gehen, Fixpunkte suchen, den Stand der Sonne oder der Sterne zu Hilfe nehmen, so hatte er es einst gelernt. Aber er hatte sich noch nie verirrt. Und er hatte vergessen, wie man es anstellte, geradeaus zu gehen und nicht unwillkürlich im Kreis.
    Nach einer weiteren Stunde glaubte er eine Stelle wiederzuerkennen. Er wurde sich jedoch nicht eins darüber, ob er hier vor oder nach dem Läuten vorbeigekommen war. Oder gar vor zwanzig Jahren.
    Er wunderte sich, wie schnell es dunkelte.
    Er betrachtete den Platz vor ihm. Eine schmale Lichtung mit kniehohem Farn und Haselsträuchern. Die Stämme der Buchen ringsum waren stark bemoost. Es roch nach Pilzen. Zu sehen waren keine.
    Beim Laufen hatte er es nicht bemerkt, doch als er nun stand und nachsann, fiel ihm auf, daß es kalt wurde. Mit automatischen Bewegungen rieb er sich Arme, Oberkörper, Schenkel. Er lief einige Schritte. Seine Beine waren bleiern. Der Rücken tat ihm weh, und er hatte Durst.
    In der Mitte der Lichtung ließ er sich nieder. Über sich sah er einen rechteckigen Ausschnitt blauen Himmels, der sich rötlich verfärbte. In diesem Moment wußte er, daß an diesem Tag das Wolfsvieh kommen würde. Er würde an dieser Stelle sitzen und ein Knacken hören. Dann die Schritte. Und dann würde es durch das Gebüsch dort brechen und auf ihn zuspringen. Groß, unaufhaltsam, unpersönlich. Unüberwindlich.
    »Nein, bitte nicht«, flüsterte er schwach, und Tränen stiegen ihm in die Augen.
    Die Dunkelheit ängstigte ihn, mehr noch als die fallende Temperatur. Weil der Akku des Telefons leer war, wußte er die Uhrzeit nicht. Viel später als sieben konnte es nicht sein. Offenbar hatte es ihn tief in den Wald getrieben.
    Er zog eine der Karten aus der Tasche.
    Laut schreien! las er.
    Der Zufall, der ihm einen passenden Befehl in die Hand gespielt hatte, gab ihm Hoffnung. Er stand auf, um kräftiger rufen zu können.
    »Hallo! Hier bin ich! Hier! Hilfe!«
    Er machte kehrt und wiederholte den Ruf in der entgegengesetzten Richtung. Zu schießen wagte er nicht, da er den Sack mit den Patronen auf der alten Truhe liegengelassen hatte. Zwar hatte er nicht das Gefühl, sich bald gegen etwas oder jemanden verteidigen zu müssen, dessen man sich mit einer Schußwaffe erwehren konnte. Und doch war er froh, das glatte Holz des Griffbeschlags in der Hand zu fühlen. Zumindest war er nicht ganz schutzlos.
    Aber – wenn niemand kam? Und er blieb?
    Und nicht mehr zurückfand?
    Er blickte in alle Richtungen. Er schloß die Augen und horchte in sich hinein. Sollte es so zu Ende gehen? Sollte er auf diese Weise zur Natur zurückkehren?
    Er bemühte sich, an nichts zu denken. Atmete tief ein und aus. Stellte sich vor, an einem anderen Ort zu sein. An dem es keine

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