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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Gänsehaut gab, keinen Hunger und kein verdächtiges Rascheln. Mit Marie. Mit Marie im Bett. Seinen Schenkel an ihrem. Ihre Zartheit zu fühlen, ihre Wärme. Ihren Atem zu spüren und den Druck ihrer Hände. Ihren Duft aufzunehmen, ihr sanftes Räuspern zu hören, wenn sie sich umdrehte, ohne die Berührung mit ihm aufzugeben.
    Er war nicht allein. Sie war bei ihm. Er hatte, wenn er es wollte, sie immer bei sich. Sie war ihm mit einemmal viel näher als vor zwei oder vier Wochen. Als er schon gedacht hatte, sie verloren zu haben.
    Es ging ihm besser. Die Angst war klein. Murrte im Untergrund. Er war ruhig. Morgen früh würde er den Weg zurück finden. Er würde nach Hause fahren. Und dann würde er Marie suchen. Nur einschlafen durfte er jetzt nicht.
    Er öffnete die Augen.
    Es war dunkel.
    Es mochte gegen Mitternacht sein, als er den Krampf in den Armen und Beinen nicht mehr ertrug. Er warf das Gewehr ins Gras und setzte sich.
    Seine Gedanken gehorchten ihm seit Stunden nicht mehr. Sie trieben umher, wurden bunt, verloren wieder Farbe. Hüllten ein, wurden eingehüllt. Das Wolfsvieh erschien in ihnen, und er konnte es nicht verjagen. Die wilde Gewalt, die Entschlossenheit, die das Wesen ausstrahlte, quälte ihn, bis es ohne sein Zutun verschwand und eine rätselhafte, warme Heiterkeit in ihm aufstieg. Er lächelte. Kicherte vor sich hin. Am liebsten wäre er aufgestanden, um weiter nach dem Weg zu suchen. Das Wissen, bald wieder von anderen Gefühlen beherrscht zu werden, hielt ihn zurück.
    Er hob den Kopf. Er war überzeugt, von einem Fremden angestarrt zu werden, der ihm keine drei Meter entfernt gegenübersaß und den er dennoch nicht sehen konnte. Zugleich stellte er fest, daß das Zwinkern seiner Augen länger dauerte, als es sollte. Erschrocken streckte er die Hand nach dem Gewehr aus. Der Weg schien doppelt oder gar dreimal so weit. Er sah die Hand nicht, doch er fühlte, daß ihre Bewegung auf unerbittliche Weise langsamer wurde. Er ließ das Kinn in Richtung Brust sinken, um den Hut abzuwerfen. Er hatte das Gefühl, sich nicht zu bewegen. Am Rascheln in den Bäumen bemerkte er, daß jeder Laut aus vielen einzelnen Tönen bestand, und diese bestanden aus Tonpunkten.
    Er wußte nicht, wie es ihm gelang, sich herauszureißen. Sein Wille war stärker als die Langsamkeit. Er sprang auf, legte das Gewehr an und – wartete, was er selbst nun tun würde.
    Er lachte.
    Er staunte darüber, daß er lachte.
    Drei Uhr früh. Vielleicht zwei, vielleicht halb vier. Zu schlafen wagte er nicht. Obwohl seine Gelenke schmerzten und ihm vor den Augen rote Ringe tanzten. Er lauschte. Jedes Geräusch, mit dem der Nachtwind in die Bäume griff, hallte in seinen Ohren nach. Er trennte Wirkliches von Einbildung, sah sich um. Schützte Probleme mit seinen Schuhbändern oder dem Reißverschluß der fremden Jacke vor, um laut zu spotten und zu schimpfen.
    Wenn er über Gott und das Sterben nachgedacht hatte, war ihm stets dasselbe Bild erschienen. Das des Körpers, aus dem alles kam und zu dem alles zurückkehrte. Was ihm die Kirche erzählte, hatte er bezweifelt. Gott war nicht einer, Gott war alle. Was die anderen Gott nannten, sah er als ein Prinzip, das sich ihm als Körper verdeutlichte. Ein Prinzip, das alles ausschickte, um zu leben und dann zu berichten. Gott war ein Körper, der Menschen, aber wohl auch Tiere und Pflanzen, ja vielleicht sogar Steine, Regentropfen, Licht ausschickte, um alles kennenzulernen, was Leben ausmachte. Nach dem Ende ihres Seins kehrten alle an und in den Körper zurück. Ließen Gott an ihren Erfahrungen teilhaben und nahmen ihrerseits jene der anderen auf. So daß jeder erfuhr, wie es war, ein Rapsbauer in der Schweiz zu sein oder ein Automechaniker in Karatschi. Eine Lehrerin in Mombasa oder eine Hure in Brisbane. Oder ein Einrichtungsberater in Österreich. Eine Seerose zu sein, ein Storch, ein Frosch, eine Gazelle im Regen, eine Honigbiene im Frühling oder ein Vogel. Eine Frau in der Lust, ein Mann. Ein Erfolgreicher, ein Versager. Dick oder schlank, kräftig oder zart. Ein Mörder zu sein. Oder ermordet zu werden. Ein Felsen zu sein. Ein Regenwurm. Ein Bach. Wind.
    Leben, um zurückzukehren und dieses Leben den anderen zu schenken. Das war Gott für ihn gewesen. Und nun fragte er sich, ob der Umstand, daß alles Leben gewichen war, bedeutete, daß Gott, daß die anderen kein Interesse hatten an seinem Leben. Ob seines nicht gebraucht wurde.
    Sechs Uhr früh. Er spürte die Dämmerung, ehe er

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