Die Arbeit der Nacht
er Karten gespielt und Memory.
Auf dieser Bank hatte er den Erwachsenen beim Weintrinken und Reden zugehört.
In dieser Truhe hatte er sich beim Spiel vor Onkel Reinhard versteckt.
Er stellte die leere Flasche zu den anderen hinter die Tür und nahm sich eine neue. Aus dem Schlafzimmer holte er die Kamera. Er steckte sie an, spulte zurück. Als er so mit den Kabeln hantierte, fiel ihm der Traum ein, den er irgendwann in den vergangenen achtundvierzig Stunden gehabt haben mußte.
Sie streiften durch eine weite Wiese. Marie, er, Hunderte andere. Er sprach mit niemandem, niemand sprach mit ihm. Ja nicht einmal die Gesichter der Menschen sah er. Doch sie waren da, liefen umher.
Ein Ungeheuer war unterwegs. Gerüchteweise war es auf jenem Hang gesehen worden. Einige Leute behaupteten – wortlos –, es befinde sich in einem Obstgarten auf der anderen Talseite. Von Zeit zu Zeit war ein Wummern zu hören, gefolgt von einer Erschütterung des Bodens, wie von einer Sprengung. Das sei es, es laufe umher und jage Menschen.
Dann sah er es. Das Vieh hatte einen Buckel, ähnlich wie ein Kamel, doch es war viel breiter, viel schwerer, und es ging halb aufrecht. Aus seinem Rücken ragten verkümmerte Flügel. Über drei Meter hoch, trampelte es durch einen freundlichen Obstgarten. Flüchtende Menschen schrien in Panik. Das furchtbarste waren die Erschütterungen der Erde, die spüren ließen, welch Koloß das Wesen war und welche Gefahr von ihm ausging.
Jonas stand etwa zwanzig Meter entfernt. Der Flügelbär jagte Menschen, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die bei diesem riesigen Körper unmöglich schien.
Nein, das schlimmste war nicht der Anblick. Nicht die Erschütterungen, wie er zunächst gemeint hatte, nicht die Gefahr. Das schlimmste war die Tatsache, daß es dieses Vieh wirklich gab. Daß es dort umherstampfte und allem widersprach, was er für denkbar gehalten hatte.
Flügelbär , schrieb er in sein Notizheft. 1500 kg. Keine Stimme, Trampeln, nah.
Er überflog die Notizen zu anderen Träumen. Um Tiere ging es oft. Oder um tierähnliche Wesen. Das verwunderte ihn. Tiere waren ihm nie wichtig gewesen. Er respektierte sie als Mitbewohner des Planeten. Sich etwa ein Haustier anzuschaffen wäre ihm nie in den Sinn gekommen.
Etwas an den Einträgen irritierte ihn. Er kam nicht darauf, was es war. Wieder und wieder las er. Endlich fiel es ihm auf.
Es war die Schrift.
Kaum merklich schien sie sich verändert zu haben. Sie war eine Spur mehr nach links geneigt als früher, und er drückte fester auf. Auch einige Häkchen an den G und L sah er zum erstenmal. Was das bedeutete und woher es rührte, wußte er nicht.
Er fühlte eine schwere Müdigkeit.
Er öffnete das Fenster zum Garten. Nur der Wind war zu hören. Er legte den Riegel vor und ließ die Jalousien herunter.
Auf Zehenspitzen tappte er hinüber in den Schlafsaal. Er versperrte die Balkontür. Auch hier schloß er die hölzernen Balken. Er kontrollierte alle anderen Fenster, dann sperrte er die Tür ab, die ins Erdgeschoß hinunterführte. Den Schlüssel zog er ab.
Er drückte die Wiedergabetaste der Kamera und setzte sich auf die Truhe.
Er sah sich an der Kamera vorbeigehen und unter die Decke kriechen. Bald hörte er gleichmäßige Atemzüge. Wie er ins Bett gefallen war, lag der Schläfer da.
Jonas starrte auf den Bildschirm. Das Bier dämpfte seine Aufregung ein wenig. Dennoch blickte er immer wieder über die Schulter. Nach hinten, wo der breite, alte Eßtisch stand. Die vier Stühle. Der dreibeinige Hocker. Der Holzofen.
Der Schläfer stand auf, winkte in die Kamera und sagte: »Ich bin es, nicht der Schläfer!«
Zu hören war, wie die Tür geöffnet wurde. Die Schritte entfernten sich. Eine Minute darauf rauschte die Wasserspülung der Toilette. Jonas sah sich wieder in die Kamera winken und unter die Decke schlüpfen.
Er spulte zurück. Nicht den Schläfer betrachtete er in den Minuten, ehe er aufstand und zur Toilette ging. Er war es, er war wach und grübelte. Er stand auf, ging zur Toilette, legte sich wieder schlafen. Und er sah nicht anders aus als der Schläfer.
Jonas ließ das Band weiterlaufen. Der Schläfer schnarchte, den Arm vor den Augen, als blende ihn das Licht. Bis zum Ende der Kassette drehte er sich noch zweimal auf die andere Seite. Mehr ereignete sich nicht.
Er trug die Kamera zurück ins Schlafzimmer. Er legte eine neue Kassette ein. Er zog sich aus. Ging ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen. Der Tür drehte er
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