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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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sie sah. Sie kam nicht wie sonst, wie eine Auferstehung, eine Befreiung, sie kam kalt. Als es hell genug war, um sich nicht an den Bäumen den Kopf einzurennen, stand er auf. Seine Zähne schlugen aufeinander. Klamm hafteten Shirt und Hose an seiner Haut.
    In der ersten Stunde versuchte er noch, sich zurechtzufinden. Verfolgte vermeintliche Spuren, hielt nach Ansatzpunkten Ausschau. Alles, was er fand, war ein gleichförmiger Wechsel von Sträuchern, Unterholz, dichtem Wald, Schlägen. Nichts kam ihm bekannt vor.
    Am Vormittag gelangte er zu einer weiten Lichtung. Hier blieb er, bis ihm die Sonne die Kälte aus den Knochen getrieben hatte. Der immer stärker werdende Durst ließ ihn aufbrechen. Den Hunger spürte er nicht mehr im Magen, sondern als ein allgemeines Schwächegefühl. Am liebsten wäre er einfach liegengeblieben. Um zu schlafen.
    Von da an ging er ohne Plan und Ziel. Er konsultierte die Karten in der Hosentasche, doch sie befahlen ihm nur »Rote Katze« und »Botticelli«. Mit gesenktem Kopf wanderte er weiter. Bis ein Geräusch an sein Ohr drang. Ein Plätschern. Es kam von rechts.
    Er stürmte nicht sofort los, er drehte sich in alle Richtungen. Niemand da, der ihn beobachtete. Niemand, der ihn auslachen wollte.
    Er lief nach rechts. Er täuschte sich nicht, das Plätschern wurde lauter. Er kämpfte sich durch das Dickicht. Seine Hose zerriß an einem Dornenstrauch, der auch seine Hände und Arme nicht verschonte. Dann sah er den Bach. Klares, kaltes Wasser. Er trank, bis ihm der Bauch beinahe platzte. Japsend rollte er sich auf den Rücken.
    Bilder stiegen vor ihm auf. Vom Büro, von seinem Vater, von zu Hause. Von Marie. Von früher. Als er das Haar anders getragen hatte. Jünger gewesen war und sich für vieles interessiert hatte. Lebhaft mit Inge im Park, erregt diskutierend mit Freunden im Café, am Morgen leere Bierflaschen zählend in der Küche. Als Halbwüchsiger vor den knallig beleuchteten Auslagen verbotener Lokale, als Junge auf einem Fahrrad. Mit einem Lächeln, das nur an Kindern zu sehen war.
    Er schlug mit den Fäusten auf die Erde. Nein. Er würde aus diesem Wald hinausfinden.
    Er stand auf, klopfte sich die Hose ab. Er ging am Lauf des Baches entlang. Zum einen, weil er nicht dürsten wollte, zum anderen, weil ein Bach meist irgendwohin führte, und nicht selten zu Häusern.
    Er ging, wo es bequem war. Mal wurde der Bach schmaler, dann sprang Jonas auf die andere Seite, hoffend, daß das Gewässer nicht zu einem Rinnsal wurde und versiegte. Mal versank der Bach im Boden, doch immer fand Jonas die Stelle wieder, an der das Wasser ans Licht zurückkehrte. Er schüttelte die Faust.
    »Hehehe, wir werden ja sehen!«
    Hunger und Müdigkeit spürte er nicht mehr. Er lief und lief. Bis plötzlich der Wald endete und er an einer Felskante stand, über die der Bach beinahe lautlos in die Tiefe stürzte.
    Vor ihm lag eine weite Landschaft. Ihm gegenüber, durch eine tiefe Schlucht von ihm getrennt, gewahrte er eine Siedlung. Auf den Feldern neben den Häusern machte er dunkle Punkte aus, in denen er erst nach einer Weile Heuballen erkannte. Er zählte zwölf Häuser und ebenso viele Nebengebäude. Leben war nicht wahrzunehmen. Die Entfernung schätzte er auf zehn Kilometer. Es konnten auch fünfzehn sein.
    Direkt vor ihm ging es gut hundert Meter abwärts. Eine steil abfallende Felswand, und kein Pfad, der ins Tal hinabführte.
    Er konnte nicht erklären, woran es lag. Doch die Ansiedlung kam ihm bekannt vor. Dabei war er sich sicher, hier nie gewesen zu sein.
    Er wandte sich nach links. Sich immer am Rand des Plateaus haltend, wanderte er, bis die Siedlung längst außer Sicht war. Er stieß auf keine Straße, keinen Weg, keinen Zaun, kein Schild, ja nicht einmal auf eine Markierung der Forstaufsicht oder des Alpenvereins. Er durchquerte Niemandsland. Vermutlich war er seit Jahren der erste, der hier ging.
    In der Sorge, sich immer weiter von Kanzelstein und den umliegenden Orten zu entfernen, drehte er um. Drei Stunden nach dem erstenmal stand er wieder an der Stelle, an der der Bach sich ins Tal ergoß. Er trank, soviel er konnte. Mit einem geringschätzigen Sprung setzte er auf die andere Seite. Er sah hinüber zur Ansiedlung. Alles lag in unveränderter Starre.
    Etwas an diesem Anblick ängstigte ihn. Ohne sich dem Panorama zu widmen, ging er weiter. Mit der Linken drückte er sich den Hut ins Gesicht, um die Ansiedlung auch nicht aus den Augenwinkeln sehen zu müssen. Er wollte etwas

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