Die Arbeit der Nacht
erst, als ihm bei einem gedankenverlorenen Rundblick etwas auffiel.
Er steckte eine Münze in den Schlitz und schwenkte das Fernrohr, das den Touristen zuliebe aufgestellt worden war, nach Nordost. Der Donauturm. Er bewegte sich nicht mehr. Die Tuchfahne hing herab. Es mußte während seiner Abwesenheit geschehen sein. Vermutlich hatte es einen Kurzschluß gegeben.
Im Grunde war es einerlei. Das Wort, das er geträumt und auf die Tischtücher geschrieben hatte, war eine falsche Fährte gewesen. Zumindest war ihm UMIROM nicht wieder untergekommen.
Er legte die Hände an den Mund und schrie: »Umirom!« Er lachte.
Noch eine Weile betrachtete er das Panorama. Er sah das sich langsam drehende Riesenrad. Den Donauturm. Den Millennium-Tower. Er sah die UNO -City, er sah Fabrikschlote. Er sah die Müllverbrennungsanlage Spittelau. Er sah die Kalorischen Kraftwerke. Er sah Kirchen und Museen. Die meisten Orte hatte er nie besucht. Es war eine kleine Großstadt, aber doch so groß, daß man sich nicht mit allem vertraut machen konnte.
Die Fahrt hinunter war noch unangenehmer. Weniger als das Eingesperrtsein schreckte ihn nun die Vorstellung, die Bremsen könnten versagen und den Liftkasten mit ihm siebzig Meter abstürzen lassen. Unten beeilte er sich, aus der Kabine zu kommen.
Während er zu den Katakomben hinabstieg, versuchte er sich in Erinnerung zu rufen, was er aus seiner Schulzeit und früheren Besuchen noch über den Ort wußte. Viel war es nicht. Er erinnerte sich, daß es zwei Teile gab. Die alten Katakomben aus dem 14. Jahrhundert und die neueren aus dem 18. Der ältere, in dem die Kardinalsgruft lag, befand sich unter der Kirche, der jüngere bereits etwas außerhalb ihres Bereichs. Im Mittelalter hatte dieser Ort als Stadtfriedhof Wiens gedient, der aus Platzmangel dann aufgelassen worden war.
»Hallo?«
Er gelangte in einen kleinen Raum mit Bänken. Das Licht war grell. An allen Ecken brannten Lampen. Über den steinernen Boden zog sich eine Spur aus Wachstropfen. Er folgte ihr.
In jedem Raum mußte er Licht anknipsen. Fand er den Schalter nicht gleich, hustete er und lachte. Sobald die Dekkenlampen erstrahlten, wagte er sich weiter. Gelegentlich blieb er stehen. Er hörte nichts als seinen schnellen Atem.
Er kam in einen schmalen Gang, in dem an den Seiten Tongefäße ausgestellt waren. Hier herrschte eine merklich niedrigere Temperatur als in den Räumen davor. Erklären konnte er sich dieses Phänomen nicht. Die Räume waren voneinander nicht durch Türen getrennt. Über steinerne Schwellen ging es vom einen zum nächsten.
Er machte drei Schritte zurück in den Raum, aus dem er gekommen war. Wärmer.
Er ging wieder nach vor. Kälter. Weit kälter.
Etwas sagte ihm, er solle umkehren.
Am Ende des Ganges drang ein schwacher Lichtschein aus einem Nebenraum. Er war sicher, es nicht eingeschaltet zu haben. Er fragte sich, wo genau er sich aufhielt. Vermutlich war er in der Nähe des Hauptaltars. Jedenfalls steckte er noch unter der Kirche.
»Hallo!«
Er dachte daran, wie es ihm im Wald ergangen war. Wie rasch er die Orientierung verloren hatte. Zwar war das hier kein Wald, doch er hatte auch keine Lust, sich durch die Katakomben des Stephansdoms zu tasten. Von dieser Stelle aus wußte er noch den Weg zurück. Ging er jedoch weiter, konnte sich das rasch ändern.
Das Licht im Nebenraum schien zu flackern.
»Komm raus!«
»Aus«, rief das Echo und verstummte abrupt.
Er zog eine Karte aus der Hosentasche.
Schlaf , stand darauf.
Höhnisch lachte er auf. Er zog den ganzen Stapel aus der Tasche und mischte ihn gründlich durch. Dann zog er noch einmal.
Schlaf , las er.
Ja darf das denn wahr sein, dachte er.
Wieder mischte er. Als er zum drittenmal ziehen wollte, kam die Erkenntnis über ihn wie ein Schlag. Er nahm die erste Karte, las: Schlaf . Er nahm die zweite: Schlaf . Die dritte, vierte, fünfte:
Schlaf .
Auf allen dreißig Karten stand: Schlaf .
Er ließ die Karten fallen. Blindlings stürmte er durch die modrig riechenden Räume zurück, die Treppen empor, dem Ausgang zu, auf die Straße. Als er in die Tasche griff, bekam er den Zündschlüssel nicht gleich zu fassen. Endlich gelang es ihm, den Motor zu starten. Der Wagen machte einen Satz, als er losfuhr.
Im Kaufhaus Steffl in der Kärntnerstraße fuhr er mit dem Außenlift nach oben. Wohl weil es ein gläserner Panoramaaufzug war, fürchtete er sich weniger vor dem Abstürzen. Zwar sah er, wie hoch er sich über dem Erdboden befand,
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