Die Arbeit der Nacht
doch dadurch, daß er verfolgen konnte, was geschah, wurde die Fahrt faßbarer.
Hinter dem Tresen der Sky-Bar mixte er sich einen Cocktail. Ob er doch wieder einmal Musik andrehen sollte? Aus Angst, sie könnte ihn aus dem Gleichgewicht bringen, steckte er die CD, die er schon in der Hand hielt, in die Hülle zurück.
Er setzte sich auf die Terrasse. Von hier hatte er einen geradezu familiären Blick über die Innenstadt. Vor ihm ragte der Stephansdom auf. Die Bronzedächer ringsum glänzten in der sinkenden Sonne.
Früher war er mit Marie oft hiergewesen. Das schicke Stammpublikum ließ sie von Zeiten träumen, in denen sie reich sein und sich dem Nichtstun ergeben würde, und sie schwärmte vom Weißwein, der ausgeschenkt wurde. Jonas hatte weder für die flotten jungen Leute etwas übriggehabt noch Maries Begeisterung für den Wein teilen können, denn er trank keinen. Aber es hatte ihm beschauliche Zuversicht bereitet, hier mit ihr zu sitzen, am frühen Nachmittag, wenn das Lokal schwach besucht war und wenn am nächsten Tag eine Reise für sie bevorstand. In Ruhe auf der hölzernen Terrasse den gedämpften Geräuschen der Stadt zu lauschen, den Blick auf die alte Kirche gerichtet. Einander ab und zu über den Tisch hinweg den Arm zu streicheln. Gemeinsam zu schweigen. Es waren sehr private Momente gewesen.
Er trank einen Schluck. Der Cocktail war ihm viel zu stark geraten. Er trank noch einmal. Verzog das Gesicht. Er holte sich eine Flasche Mineralwasser.
Den Blick unverwandt auf den Glockenturm des Doms gerichtet, fühlte er plötzlich den Wunsch, ein Kind zu sein. Eines, das Marmeladebrote bekam und Saft. Das auf der Straße spielte und schmutzig heimkam und für eine zerrissene Hose gerügt wurde. Und das dann von den Eltern in die Badewanne gesteckt und zu Bett gebracht wurde. Das sich um nichts kümmern und um nichts sorgen mußte. Das keinerlei Verantwortung hatte, weder für sich noch für jemand anderen. Aber vor allem wünschte er sich jetzt ein Marmeladebrot.
Er starrte auf die geschwärzten Mauern des Doms. Dort drüben, unter der Erde, in Nähe des Altars, befand sich etwas Ungewöhnliches, dessen war er sicher. Vielleicht war es nicht gefährlich. Aber jedenfalls handelte es sich um etwas, was er nicht verstand.
Und seine Karten lagen jetzt da unten. Manche wohl mit der Schrift nach oben, manche verdeckt. Schlaf , stand darauf, in seiner Handschrift. Fast seiner Handschrift. Wenn er nicht mehr hinunterging, würden sie dort liegenbleiben, bis sie zu Staub zerfielen. Niemand würde sie lesen. Und doch würden sie dort sein und zum Schlafen raten. Den Mauern. Dem üblen Geruch. Und wenn das letzte Licht erloschen war, der Dunkelheit.
Bei Sonnenuntergang war er zu Hause. Er versperrte die Tür und überprüfte alle Fenster. Im Zimmer tickte die Wanduhr mit gleichmäßigem, sattem Klang.
Er ging in die Küche. Nachdem das Fauchen der Kaffeemaschine verstummt war, goß er sich eine Tasse ein.
In einem Papierwarengeschäft hatte er alles Nötige besorgt. Mit der Schere schnitt er das Hartpapier in gleich große Karten, mit einem dicken Kugelschreiber beschriftete er sie. Auch diesmal bemühte er sich, an nichts zu denken, seinen Geist zu leeren, automatisch zu schreiben. Es gelang ihm so gut, daß er, aus einer zeitlosen Tiefe aufgetaucht, sich einen Moment fragte, wo er sich befand und was er hier tat. Zuletzt erwachte er aus seiner Versenkung mit dem Gefühl, ihn störe etwas. Nach Sekunden der Besinnung wurde es ihm bewußt. Ihn störte, daß es keine leeren Karten mehr gab.
Obwohl es in seiner Backe dumpf pochte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, ein paar Süßigkeiten auf der freien Seite des Bettes auszubreiten. Er baute die Kamera auf, legte die Kassette von vergangener Nacht ein. Mit verschränkten Beinen setzte er sich aufs Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Trotzig riß er eine Packung Schokobons auf.
Schon wollte er das Band starten, da fiel ihm ein, daß er das Hemd mit Schokolade beschmieren könnte. Außerdem war der Pyjama bequemer. So kleidete er sich um. Er bemühte sich, den zunehmenden Schmerz in seinem Oberkiefer zu ignorieren.
Er sah sich an der Kamera vorbeigehen und ins Bett sinken. Einige Minuten wälzte er sich herum. Die Bewegungen unter der Decke wurden schwächer und seltener. Nach einer Weile ertönte gedämpftes Schnarchen.
Jonas schraubte ein Likörfläschchen auf, einen Däumling, und prostete dem Fernseher zu.
Der Schläfer schlief.
Jonas
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