Die Arbeit der Nacht
Inserate angezeichnet, durchwegs professionelle Kontakte. Die fünf Fehler im Suchbild waren nicht angekreuzt.
So oft hatte er die Zeitung schon in der Hand gehabt, daß er die Unterschiede zwischen den beiden Bildern auf einen Blick sah. Sie zeigten zwei Gefängnisinsassen. Der Dicke stand mit traurigem Gesicht in einem Käfig. Der andere war so dünn, daß er gerade lachend zwischen den Gitterstäben hindurch in die Freiheit geschlüpft war. Fehler 1 war ein im rechten Bild fehlender Finger des Dicken. Fehler 2 ein falsches Muster auf dem Fußboden. Fehler 3 ein Schatten an der Mütze des Dünnen. Ein überzähliges Doppelkinn des Dicken war Fehler Nummer 4, ein vorstehender Absatz am Schuh des Dünnen die Nummer 5.
Er legte die Zeitung weg. Er aß, dann suchte er die Menütafel. Sie stand, etwas versteckt, hinter der Espressomaschine. Als er mit einem Tuch die Schrift auswischen wollte, stutzte er. Nicht Speisen und Getränke waren ausgeschrieben. Auf die Tafel war mit Kreide ein Gesicht gezeichnet. Natürlich, der Zeichner war kein Künstler gewesen, und das Gesicht auf der Tafel ähnelte sehr vielen Menschen. Aber da war das kräftige Kinn, da war das kurzgeschnittene Haar. Da war diese Nase. Gewiß hatten viele Menschen so eine Nase und so ein Kinn und so eine Frisur. Aber das Gesicht auf der Tafel hatte kein Merkmal, das Jonas nicht auch hatte. Er war es.
In seiner Verwirrung wäre er beinahe gegen einen Poller gefahren. Er blickte auf. Es hatte ihn in eine Sackgasse im ersten Bezirk verschlagen. Er setzte zurück. Die nächste Querstraße war der Graben. Er fuhr nach rechts. Kurz darauf hielt er vor dem Stephansdom.
Das Tor war geschlossen. Er mußte sich kräftig dagegenstemmen, um es aufzudrücken.
»Jemand hier?«
Der Widerhall seiner Stimme klang fremd. Er rief lauter. Hinter dem Windfang blieb er stehen. Ohne einen Laut verharrte er zwei, drei, fünf Minuten.
Stille lastete auf den Bänken. Der Weihrauchgeruch war schwächer als beim letztenmal. Einige Lampen schienen ausgefallen zu sein, das Licht war trüber.
Als er weiterging, nickte er nach links und rechts.
Er betrachtete die Heiligenfiguren, die aus der Wand ragten. Sie schienen noch unnahbarer geworden zu sein. Weder die Skulpturen noch die Gemälde sahen ihn an. Hohl starrten sie ins Nichts.
Weil ihn ein Lichtreflex irritiert hatte, untersuchte er den Sockel des heiligen Josef. Er beugte sich hinunter. Ein kleines Abziehbild klebte am Stein. Auch die Höhe, in der es angebracht war, ließ darauf schließen, daß es ein Kind heimlich hinterlassen hatte. Es zeigte ein altes Flugzeug. Darunter stand: FX Messerschmitt .
Er setzte sich auf eine Bank. Warum er gekommen war, wußte er nicht. Müde blickte er um sich.
Die Bänke waren alt und knarrten. Wie alt waren sie wohl? Hundert Jahre, dreihundert? Nur fünfzig? Waren Kriegerwitwen hier gekniet, Revolutionäre, der liebe Augustin?
»Jemand da?« schrie er.
»Da-a?« tönte es zurück.
Er begann wieder umherzuspazieren. In der Barbarakapelle besuchte er den Meditationsraum, der, wie eine Aufschrift verlautete, Betenden vorbehalten war. Er kehrte um. Er kam an dem Schild vorbei, das eine Führung durch die Katakomben ankündigte. Er ging weiter. So gelangte er zum Aufzug, der die Besucher zur Pummerin hinaufbrachte. Er drückte den Rufknopf. Nichts geschah. Er zog an der Tür. In der Kabine ging Licht an.
Zögernd trat er ein. Die Tür fiel zu. Das Innere der Kabine war gepolstert, es erinnerte an eine Gummizelle. An der Wand hing eine Tafel: Please put your Rucksack down. Der Satz ließ ihn an England denken, an das, was ihm bevorstand, sobald er sich ein wenig ausgeruht hatte. Er drückte den Fahrtknopf. Sein Magen machte einen Satz.
Ohne es zu merken, hielt er den Atem an. Es ging aufwärts, aufwärts, aufwärts. Er hätte längst dasein müssen. Er suchte nach einem Stoppknopf. Es gab keinen.
Die Kabine hielt. Jonas drängte hinaus. Die Sonne blendete, er setzte die Brille auf. Über einen schmalen Weg begann er den Rundgang. An den Seiten waren Gitter angebracht, die Selbstmördern ihr Vorhaben erschweren sollten und die Aussicht beeinträchtigten. Treppen führten hinauf zur Pummerin. Sie war hinter einem weiteren Gitter verborgen. Er sah die Glocke, doch der Anblick beeindruckte ihn nicht.
Auf der Aussichtsplattform rastete er. Er streckte sich, rieb sich das Gesicht, gähnte. Der Wind erfrischte ihn. Er kickte Steine gegen die Brüstung. Der Aussicht widmete er sich bewußt
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