Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
steckte sich ein Bonbon in den Mund. Kurz darauf biß er so unglücklich auf die darin versteckte Nuß, daß er das Gefühl hatte, ein Messer werde ihm quer durch den Kopf getrieben. Mit verkrampften Händen und zitternd wartete er, bis der Schmerz nachließ. Als er die Augen wieder öffnen konnte, warf er die Bonbonpackung in den Müll. Mit den Handballen wischte er sich die Tränen ab. Er schluckte eine Schmerztablette.
    Der Schläfer stand auf. Als er an der Kamera vorbeikam, winkte er und sagte lächelnd: »Ich bin es, nicht der Schläfer!«
    »Was ist denn jetzt wieder los?« rief Jonas.
    Auf der Suche nach der ersten Kassette, die er in Kanzelstein aufgenommen hatte, durchwühlte er seine Jackentaschen. In der Zwischenzeit sah er sich auf dem Bildschirm erneut in die Kamera winken und zurück ins Bett kriechen.
    »Da soll doch der...«
    Wenn er die Kassetten schon verwechselt hatte, wo war dann die zweite hingekommen, die von vergangener Nacht? Er war sich sicher gewesen, sie in der Jacke zu finden.
    Er durchsuchte die Reisetasche. Ganz unten lag ein Band. Er las die Aufschrift. Kanzelstein 1 .
    Er stoppte die Kassette in der Kamera, nahm sie heraus.
    Kanzelstein 2 .
    Er spulte zurück.
    Er sah sich aus dem Bett steigen. Als er an der Kamera vorbeikam, winkte er und sagte lächelnd: »Ich bin es, nicht der Schläfer!«
    Diese Augen.
    Er spulte zurück.
    Er sah sich aus dem Bett steigen, zur Kamera gehen und lächelnd winken. »Ich bin es, nicht der Schläfer!«
    Dieses Lächeln.
    Dieser Blick.
    Er spulte zurück, drückte auf Standbild.
    Er schaute dem Schläfer in die starren Augen.

23
    Die Wanduhr zeigte Mittag an. Er fuhr mit beiden Füßen gleichzeitig aus dem Bett. Sein Nacken war steif. Sein rechtes Bein tat weh. Das Pochen in der Backe hingegen kannte er schon. Er überlegte, ob er noch ein Schmerzmittel hatte.
    Wieso hatte er so lang geschlafen? Welches Theater hatte denn diese Nacht wieder stattgefunden, daß er erst nach zwölf Stunden erwachte? Und das nicht etwa erholt und ausgeschlafen, sondern erschöpft wie nach einem harten Arbeitstag?
    Er blickte zur Kamera.
    Sie stand nicht da.
    »Sachte!« Abwehrend hob er die Hände. »Moment, Moment.«
    Er senkte den Kopf, zerrte an Haarsträhnen. Versuchte nachzudenken. In ihm war alles leer. Er schaute auf.
    Die Kamera war weg.
    Er kontrollierte die Wohnungstür. Von innen abgeschlossen. Er sah an den Fenstern nach. Nichts Auffälliges. Er leuchtete mit der Taschenlampe unters Bett, öffnete Schränke und Schubladen. Sogar die Zimmerdecke untersuchte er, den Mülleimer, den Spülkasten der Toilette.
    Beim Frühstück versuchte er sich zu erinnern, was er vor dem Einschlafen gemacht hatte. Er hatte eine neue Kassette eingelegt und sie auf drei Uhr früh programmiert. Dann hatte er sich die Zähne geputzt. Gegen die Zahnschmerzen hatte er sich ein Tuch um den Kopf gewickelt, weil ihm in seiner Verzweiflung nichts anderes mehr eingefallen war. Um Mitternacht hatte er sich schlafen gelegt.
    Der Wickel! Er war auch verschwunden.
    Jonas stellte die Kaffeetasse ab. Betrachtete seine Hände. Das waren seine Hände. Das war er.
    »Du bist das«, sagte er.
    Auf dem Weg zur Apotheke hielt er nach der Kamera Ausschau. Er hätte sich nicht gewundert, sie auf dem Dach eines Autos zu finden oder mitten auf einer Kreuzung, vielleicht umgeben von Blumensträußen. Aber er entdeckte sie nirgends.
    Er schluckte zwei Parkemed auf einmal. Den Rest der Schachtel steckte er ein. Parkemed hatte ihm gegen Schmerzen immer gut geholfen, er verstand nicht, wieso es am Abend zuvor nicht gewirkt hatte.
    In seinem Kiefer pochte es heiß. Wenn er nur sachte gegen die betreffende Stelle drückte, zuckte ihm der Schmerz bis ins Genick.
    Gern hätte er sich vor einen Spiegel gestellt, um zu sehen, ob er geschwollen war. Doch das kam nicht in Frage. Er befühlte beide Backen zugleich. Er war unschlüssig. Möglicherweise, ja. Ja, es war möglich.
    Als der Schmerz nachließ, machte er sich zu Fuß auf den Weg in Richtung Innenstadt. Auf der Salztorbrücke lehnte er sich gegen die Brüstung. Wind trieb ihm Staubkörner in die Augen. Blinzelnd sah er hinab auf das Wasser. Es schien ihm sauberer als früher.
    Sich mit ausgebreiteten Armen auf das Geländer stützend, blickte er auf die Uferpromenade hinunter, die mit flachgetretenen Limonadedosen, Zigarettenschachteln, anderem Plastikmüll und Papier übersät war. Im Sommer war er hier mit Marie flaniert. Sie hatten Eis gegessen. Manchmal

Weitere Kostenlose Bücher