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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Jonas. Das war er. Jo-nas. Und der 14. August, das war dieser Tag. Dieser 14. August kehrte nie wieder. Es gab ihn einmal, und dann konnte man sich nur noch an ihn erinnern. Daß es schon andere Tage dieses Datums gegeben hatte, einen 14. August 1900, einen im Jahr 1930, einen in 1950, 1955, 1960, 1980, das war menschliche Vereinfachung, war Lüge. Kein Tag kehrte wieder. Keiner. Und keiner glich dem anderen. Ob Menschen ihn erlebten oder nicht. Der Wind blies nach Norden, der Wind blies nach Süden. Der Regen regnete auf jenen Stein, auf jenen nicht. Dieses Blatt fiel, dieser Ast knickte, diese Wolke trieb am Himmel.
    Abermals mußte sich Jonas auf die Suche nach einem Fahrzeug machen. Er marschierte eine Stunde, dann fand er einen alten Fiat, dessen Hinterbank mit in Plastik verpackten Stofftieren bedeckt war. Leere und volle Bierdosen lagen umher. Noch immer hatte er den Fleischgeschmack auf der Zunge. Er spülte den Mund aus.
    Am Innenspiegel hing eine Kette, an der ein Medaillon baumelte. Er öffnete es. Es enthielt zwei Bilder. Eines von einer lächelnden jungen Frau. Darunter versteckt eines von der Jungfrau Maria.
    An der Ausfahrt nach Bristol kam er am Vormittag vorbei. Er kämpfte wieder gegen den Schlaf an. Mehrmals blieb er stehen, lief ein paar Schritte, machte Gymnastik. Lange währte die Rast nie, stets riß ihn der Wind fast um, fühlte er sich beobachtet, hatte er das Gefühl, sich nicht zu weit vom Auto entfernen zu dürfen.
    Es wurde Mittag, Nachmittag. Er fuhr. Er wollte nicht einschlafen. Er wollte weiter, weiter.
    Liverpool.
    Das rätselhafte Video kehrte in sein Bewußtsein zurück. Auf dem er seine Mutter und Großmutter gesehen hatte. Er wollte nicht daran denken, doch die Bilder drängten sich ihm auf. Er sah das wächserne Gesicht der alten Frau. Wie sie tonlos auf ihn einzureden schien.
    Preston.
    Lancaster.
    150 Kilometer bis zur Grenze. Aber er konnte nicht mehr. Er wußte, daß es ein Fehler war, sich schlafenzulegen, doch es war vorbei. Jede Faser in ihm sehnte sich nach Ausruhen. Er konnte den Wagen nicht mehr steuern.
    Er hielt an, kurbelte das Fenster hinunter. Schrie etwas hinaus. Fuhr weiter.
    Er wußte nicht, wie lange er wieder fuhr, als er bemerkte, daß sein linkes Auge geschlossen war. Auch das Lid des rechten kontrollierte er kaum noch. Er lag mit dem Kinn auf dem Lenkrad. Er fragte sich, wohin er fuhr.
    Wohin fuhr er? Wieso befand er sich in diesem Auto?
    Er mußte schlafen.
    Er öffnete die Augen, aber alles blieb dunkel. Er versuchte sich zu orientieren. Er konnte sich nicht einmal erinnern, daß der Schlaf gekommen war. Das letzte, was er behalten hatte, waren Bilder von der Autobahn. Das graue Band vor ihm, das keinerlei Abwechslung bot.
    Er schnellte hoch, schlug sich heftig den Kopf an, brüllte auf, sank zurück. Rieb sich die Stirn.
    Seine Stimme hatte hohl geklungen. Wo steckte er? In der Hand schien er ein Messer zu halten. Er überprüfte es mit der anderen. Tatsächlich, ein Jagdmesser oder ähnliches.
    Als er versuchte, sich umzudrehen, stieß er an allen Seiten gegen Hindernisse. Es war kein Platz, er konnte sich kaum bewegen. Seine Beine waren angewinkelt, sein Oberkörper gekrümmt.
    Wo befand er sich?
    »He!« schrie er.
    Er schlug mit der Faust gegen die Wand. Ein dumpfer Klang ertönte, dem kein Echo folgte.
    »Hallo! Was ist los?«
    Er stemmte sich mit beiden Unterarmen gegen das Hindernis über ihm, doch es bewegte sich nicht.
    Ein Sarg.
    Er lag in einem Sarg.
    Er trommelte gegen die Wände seines Gefängnisses und schrie. Es klang dumpf, entsetzlich dumpf. In seinem Kopf schien etwas zu explodieren. Er sah Farben, von deren Existenz er nichts gewußt hatte. Unerklärliche Bilder tanzten vor seinen Augen, vermengten sich mit Geräuschen. Ein durchdringender Geruch von Klebstoff erfüllte den Kasten, in dem er lag. Er strampelte mit den Füßen. Sie stießen gegen die Wand. Bald hatte er das Gefühl, er brenne an Füßen und Fingerspitzen.
    Wurde unter ihm etwa ein Feuer angezündet? Lag er in einem Topf, wurde er geröstet?
    Er dachte an Marie.
    Er dachte an die Antarktis. An das Schild am Südpol. Er versuchte, seinen Geist dorthin zu schicken. Egal, wo er hier lag. Egal, was geschah. Die Antarktis gab es. Das Schild gab es. Ein wenig in seinem Kopf. Und ganz in der Realität. Es würde sein, auch wenn er nicht mehr war.
    »Aber das ist doch nicht möglich!« brüllte er. »Zu Hilfe, zu Hilfe!«
    Mit weit geöffnetem Mund riß er förmlich den Atem in

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