Die Arbeit der Nacht
Blick. Ihr schönes dunkles Haar. Die Lippen mit den leicht nach unten gezogenen Mundwinkeln.
Es fiel ihm nicht leicht. Das Bild zerrann, wurde blaß. Er konnte ihre Stimme in seinem Kopf hören, doch es klang wie ein Echo. Ihren Duft hatte er schon verloren.
Am Internet-Terminal fuhr er den Computer hoch und warf einige Eurostücke ein. Er stützte das Kinn auf die Fäuste. Während sich vor seinen Augen die Aussicht auf die Stadt langsam veränderte, spann er seine Gedanken weiter.
Vielleicht hatte er eine Prüfung zu bestehen. Einen Test, in dem es eine korrekte Antwort gab. Eine richtige Reaktion, die ihn aus seiner Lage erlöste. Ein Paßwort, ein Sesamöffnedich, eine Mail an Gott.
www.marie.com
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Wenn es eine Art Paßwort gab, sollte es mit ihm selbst zu tun haben, das erschien logisch.
www.jonas.at
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Er holte sich noch eine Flasche, trank, blickte hinaus auf die vorüberziehende Stadt.
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Weitere Dutzende bekannte und erdachte Websites versuchte er zu erreichen. Er überprüfte, welche Seiten im Verlauf gespeichert waren, und wählte diese an. Vergebens.
www.umirom.com
Die Seite wurde nicht gefunden. Versuchen Sie es später noch einmal, oder überprüfen Sie die Systemeinstellungen.
Die Flasche in der Hand, ging er ohne Eile durch alle Räume. In der Kinderecke stieß er auf Malutensilien. Als Kind hatte er gern mit Farben gespielt. Seine Eltern hatten ihm bald alle Pinsel und Stifte weggenommen, weil er kleckste und einige von Mutters Handarbeiten ruiniert hatte.
Sein Blick fiel auf das weiße Tischtuch.
Er zählte die Tische im Café. Es waren zwölf oder mehr. Dazu kamen noch jene aus der oberen Etage.
Er machte sich daran, alle Tische abzudecken. Von der oberen Etage kehrte er mit vierzehn Tüchern zurück. In einem Regal fand er Ersatztücher. Als er fertig war, lagen dreiunddreißig Stoffstücke vor ihm.
Er verknotete die Enden so, daß er ein Rechteck aus dreimal elf Tüchern erhielt. Um beim Knüpfen Bewegungsfreiheit zu haben, mußte er Tische und Stühle zur Seite schieben. Es dauerte eine halbe Stunde, bis er die Farbtuben holen konnte. Er entschied sich für Schwarz.
Seinen Namen? Die Telefonnummer? Bloß Hilfe ?
Eine Sekunde zögerte er, ehe er zu malen begann. Dann führte er die Arbeit zügig durch. Einfach war es nicht, weil die Tücher Falten warfen. Überdies galt es, Abstände zu messen und die Farbe dick und breit genug aufzutragen.
Mit dem Rest aus den Tuben schrieb er seine Telefonnummer an Wände, auf Tische, auf den Boden.
Da das Panoramafenster nicht zu öffnen war, schoß er es mit der Pumpgun links und rechts von einem Rahmen kaputt. Dem Knall aus dem Gewehr folgte Sekunden später das Klirren, mit dem das geborstene Glas unten auf die Terrasse regnete. Starker Wind fuhr ins Café, fegte Speisekarten von den nackten Tischen und ließ Geschirr an der Bar erzittern.
Mit dem Gewehrkolben entfernte Jonas im Rahmen steckengebliebene Scherben. Als er sich mit den Enden der Tuchfahne ans Fenster stellte, wurde ihm mulmig. Er merkte, daß er den Drehkessel hätte abschalten sollen. Die Fahrt des Cafés rund um den Turm erleichterte die Aufgabe nicht gerade. Der Wind peitschte ihm ins Gesicht. Seine Augen tränten. Er hatte das Gefühl, er werde jeden Moment ins Leere stürzen. Dennoch gelang es ihm, die Enden der drei Außentücher fest an den Fensterrahmen zu binden. Immerhin bestanden sie aus dünnem Stoff, und er war überzeugt, daß die Konstruktion halten würde.
Er raffte die Tuchfahne zusammen und warf sie aus dem Fenster. Sie hing schlaff hinab. Bald blähte sie der Wind, doch die Aufschrift war noch immer nicht deutlich zu erkennen. Damit hatte er gerechnet.
Er nahm das Gewehr, warf noch einen Blick auf die Verwüstung, die er hinterließ, und hastete in die Zentrale. Dort war Handwerkszeug leicht zu finden, weil die Hausmechaniker von hier aus ihrer Arbeit nachgingen. Schnell stand er mit einem Hammer beim Drehkessel und schlug auf die Sperrsplinte ein. Nach dem dritten Hieb löste sie sich. Eine Alarmsirene ertönte. Er schob den Regler gegen geringen Druckwiderstand über die
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