Die Arbeit der Nacht
und ab. Er lehnte sich an Türrahmen, nahm bestimmte Positionen ein, um sich besser zu erinnern. Mit geschlossenen Augen betastete er Türgriffe, die sich gleich anfühlten wie damals.
Er legte sich in das fremde Bett. Als er an die Decke blickte, wurde ihm schwindlig. So oft hatte er an dieser Stelle gelegen, hatte nach oben gesehen, und nun tat er es nach so vielen Jahren wieder. Er war weggegangen, die Decke war dageblieben. Für sie war alles einerlei, sie hatte gewartet. Hatte anderen Menschen bei ihren Verrichtungen zugeschaut. Jetzt war er zurück. Sah die Decke an. Wie früher. Dieselben Augen blickten auf dieselbe Stelle an der Decke. Zeit war verstrichen. Zeit war kaputtgegangen.
Dem Lift im Donauturm vertraute er sich nur zögernd an. Er wollte sich nicht ausmalen, was geschah, wenn der Aufzug steckenblieb. Doch es war unmöglich, sich der Technik ganz zu verweigern, es hätte bedeutet, sich viele Wege zu blockieren. Also stieg er ein, drückte den Knopf und hielt den Atem an.
Bis zur Spitze maß der Donauturm zweihundertzwanzig Meter. Als sich die Lifttür wieder öffnete, befand sich Jonas hundertfünfzig Meter über dem Erdboden. In dieser Höhe war die Aussichtsterrasse. Eine Treppe führte hinauf zum Café.
Dort fand er sich sofort zurecht. Er nahm sich eine Limonade. Oft war er mit Marie hergekommen, die die Aussicht liebte und besonders die Kuriosität, daß sich das Café langsam um den Turm herum drehte. Ihm war das immer etwas seltsam erschienen, Marie hingegen hatte sich dafür wie ein Kind begeistert.
In der Betriebszentrale konnte man einstellen, wie lange das Café für eine Umdrehung benötigte: 26, 40 oder 52 Minuten. Marie hatte es jedesmal fertiggebracht, daß der zuständige Techniker den Regler auf die 26 stellte. Einmal war der Mann mit der Uniform von ihr so hingerissen gewesen, daß er mit Anekdoten aufgetrumpft hatte, nur damit sie blieb. Jonas’ Anwesenheit schien ihn nicht zu irritieren. Er erzählte, man konnte das Café schneller, viel schneller um den Turm drehen. Während der Bauarbeiten hätten die Beschäftigten, unter denen sein Onkel gewesen ist, der wiederum ihm davon berichtet habe, mit dem Mechanismus gespielt. Der Rekord sei bei elf Sekunden für eine Umdrehung gestanden, als sie erwischt worden waren. Seither verhindere eine Sicherheitssplinte, daß jemand Unfug trieb. Die schnellen Umdrehungen kosteten viel Strom, waren darüber hinaus gefährlich. Abgesehen davon, daß jedem im Lokal schlecht wurde und man sich bewegte wie auf einem Schiff bei hohem Seegang.
Und das soll ich Ihnen glauben, hatte Marie gefragt. Aber sicher, hatte der Techniker mit zweideutigem Lächeln geantwortet. Daran erkennt man, daß alle Männer Kindsköpfe sind, hatte Marie gesagt. Darauf waren sie und der Techniker in Gelächter ausgebrochen, und Jonas hatte sie fortgezogen.
Er ging in die Zentrale. Zu seiner Überraschung entdeckte er tatsächlich eine Sicherheitssplinte. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß er nicht aus Versehen den Lift außer Betrieb setzte oder es mit den Umdrehungen übertrieb wie der Onkel, schaltete er den Drehkessel ein und schob den Regler auf die 26.
Ohne nach unten zu sehen, lehnte er sich auf der Terrasse gegen die Brüstung, unter der ein Schutzgitter aus der Mauer ragte. Es sollte spektakulären Selbstmorden vorbeugen.
Wind blies ihm heftig ins Gesicht. Die Sonne stand tief. Es war so hell, daß er eine Weile die Augen zusammenkniff. Als er sie öffnete und in die Tiefe blickte, machte er unwillkürlich einen Schritt zurück.
Was war es, das ihn hier herauftrieb? Die Aussicht? Die Erinnerung an Marie?
Oder war es gar nicht sein freier Wille? War er wie ein Hamster in einem Laufrad, wurden seine Handlungen von jemand anderem bestimmt?
War er gestorben und in die Hölle gekommen?
Er trank seine Flasche leer, holte weit aus und warf sie in die Tiefe. Sie fiel lange. Dann schlug sie geräuschlos unten auf.
Im Café setzte er sich an jenen Tisch, den er mit der Erinnerung an die Besuche mit Marie verband. Er las alle ihre Kurznachrichten, die er im Speicher des Handys aufbewahrt hatte. Ich bin gerade über dir, ein paar Kilometer nur. – Schlecke gerade ein Tüteneis und denke an dich. :-) – Bitte F M H ! – You are terrible! *hic* :-) – Ich liebe liebe liebe liebe dich .
Er schloß die Augen. Er versuchte, ihr eine telepathische Mitteilung zukommen zu lassen. Ich lebe, bist du da?
Er stellte sich ihr Gesicht vor, ihre Wangen, ihren hellen
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