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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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auf eine sinnlose Anhäufung von Gegenständen gestarrt. Vor Jahren zusammen mit Marie, die dergleichen mochte, im Theater: ein modernes Stück. Danach hatte sie ihn gescholten, er sei bar jeder Bereitschaft, sich Neuem zu öffnen.
    Er konnte nicht stillsitzen. Er hatte das Gefühl, sein Bein schlafe ein. Überall juckte es ihn. Er sprang auf, holte sich erneut Wasser. Ließ sich auf die Couch fallen. Wand sich, fuhr mit den Beinen in der Luft Rad. Den Blick kehrte er nicht vom Schirm ab.
    Das Telefon läutete.
    Mit einem gewaltigen Satz über den Glastisch hinweg stand er am Telefon. Sein Herz setzte aus. Der nächste Schlag tat weh. Es rumpelte in seiner Brust, und er rang nach Atem.
    »Ha... – hallo?«
    »Lo?«
    »Wer ist da?«
    »Sta?«
    »Können Sie mich verstehen?«
    »Ehn?«
    Wer immer ihn anrief, er sprach nicht von Österreich aus. Die Verbindung war so schlecht, die Stimme so leise, daß er an einen Anruf aus Übersee denken mußte.
    »Hallo? Können Sie mich verstehen? Sprechen Sie meine Sprache? English? Français?«
    »Seh?«
    Etwas mußte geschehen. Es gelang ihm nicht, ein Gespräch herzustellen. Er wußte nicht, ob ihn der andere überhaupt hörte. Wenn nicht, würde es bald in der Leitung klicken.
    »I am alive!« schrie er. »I am in Vienna, Austria! Who are you? Is this a random call? Where are you? Do you hear me? Do you hear me?«
    »Ih?«
    »Where are you?«
    »Ju?«
    Er stieß eine Verwünschung aus. Er hörte sich selbst, den anderen gar nicht.
    »Vienna! Austria! Europe!«
    Er wollte nicht wahrhaben, daß kein Kontakt zustande kam. Eine innere Stimme sagte ihm, es sei zwecklos, doch er weigerte sich aufzulegen. Er machte Sprechpausen. Lauschte. Schrie in den Hörer. Bis ihm der Gedanke kam, der andere könnte gemerkt haben, daß es Probleme gab, und gleich noch einmal anrufen. Und gegebenenfalls war die Verbindung dann besser.
    »I do not hear you! Please call again! Call again immediately!«
    Er mußte die Augen schließen, so schwer fiel es ihm, den Hörer auf die Gabel zu legen. Er öffnete sie nicht gleich wieder. Den Kopf auf die ausgestreckten Arme hinabgebeugt, die Hände auf dem Telefonhörer, so saß er auf dem Drehhocker.
    Bitte wieder anrufen.
    Bitte ein Läuten.
    Er atmete tief ein und aus. Zwinkerte.
    Er lief ins Schlafzimmer, um Papier und Stift zu holen und die Uhrzeit aufzuschreiben. Nach einigem Zögern setzte er das Datum hinzu. Es war der 16. Juli.
    Die Arbeit in der Hollandstraße, die er sich vorgenommen hatte, mußte warten. Er wagte keinen Schritt aus der Wohnung. Besorgungen verschob er, erledigte nur das Nötigste. Er schlief auf einer Matratze vor dem Telefon.
    Dreimal täglich änderte er den Ansagetext auf dem Anrufbeantworter. Er überlegte, welche Informationen am wichtigsten waren. Dazu zählte er den Namen, das Datum, die Handynummer. In bezug auf den Ort und die Zeit war er unschlüssig. Zu lang durfte der Text nicht werden. Außerdem mußte er verständlich sein.
    So wurde Jonas mit jedem Anhören des Bandes unzufriedener. Mit unausgesetzter Konsequenz stellte er in neuen Aufnahmen die Reihenfolge der Informationen auf den Kopf. Das alles für den Fall, daß das Telefon in jenen sechs bis sieben Minuten läutete, die er im Supermarkt brauchte, um Apfelsaft, tiefgekühlten Dorsch und Toilettenpapier einzuladen.
    Vielleicht war der Anruf eine Belohnung. Dafür, daß er sich nicht seinem Schicksal ergab, sondern aktiv blieb. Nach Hinweisen suchte.
    Mit frischer Willenskraft unterzog er sich der Mühe, die Videoaufzeichnungen auszuwerten. Er beließ es nicht dabei, sich das Video aus dem Millennium-Tower einmal anzuschauen. Nachdem er nichts entdeckt hatte, spulte er zurück. Sah sich das Band in Zeitlupe an.
    Eine Weile meinte er, die Zeitlupenfunktion des Rekorders sei kaputt. Sie war es nicht. Es bestand kein sichtbarer Unterschied zwischen einer normalen Aufnahme der erstarrten Dächer Wiens und einer, die diese Dächer verlangsamt zeigte. Bäume, die der Wind hätte schütteln können, waren nur vereinzelt zu sehen, zu klein und zu weit entfernt, um an ihnen Bewegung wahrzunehmen.
    Er drückte den Knopf für ein Standbild. Er schloß die Augen, spulte vor, drückte wieder auf Standbild, machte die Augen auf.
    Kein Unterschied.
    Er schloß die Augen, spulte vor, drückte den Knopf für das Standbild, öffnete die Augen.
    Kein Unterschied.
    Er spulte das Band bis fast ans Ende und startete den Rückwärtslauf. Im Zeitraffer lief das Bild zurück.
    Kein

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