Die Arbeit der Nacht
Unterschied.
Er ließ sich nicht beirren. Tags darauf analysierte er das Video von der Favoritener Straßenkreuzung auf die gleiche Weise.
Mit dem gleichen Resultat.
Stunde um Stunde starrte er auf die totale Bewegungslosigkeit, ohne etwas Ungewöhnliches zu bemerken. Die einzige Veränderung betraf den Schatten. Diesem Unterschied war er auf die Spur gekommen, als er ein Standbild vom Anfang mit einem vom Ende verglich. Doch nichts wies auf Abnormität hin. Es war der Lauf der Sonne.
Kein Ereignis bargen auch die Videos, die er vor dem Parlament, vor dem Stephansdom und vor der Hofburg aufgezeichnet hatte. Mehrere Tage beschäftigte er sich mit ihnen. Er spulte vor, spulte zurück, blickte zum Telefon, griff in die Tüte mit den Kartoffelchips, wischte die salzigen Finger an der Zierdecke der Couch ab. Er drückte auf Standbild und Fast Forward. Er fand nichts. Es gab keine geheime Botschaft.
Als er das Video aus der Hollandstraße einlegte, zuckte der Schirm kurz auf und wurde dunkel.
Er stemmte die Faust gegen die Stirn. Kniff die Augen zusammen. Die Leerkassette. Er hatte sie ausgewickelt und in die Kamera geschoben. Er hatte alle – alle! – nötigen Knöpfe gedrückt. Deutlich hatte das Symbol REC aufgeleuchtet.
Er tauschte die Kameras aus. Nichts. Das Band war leer. Leer, jedoch nicht unbespielt. Er wußte, was eine unbespielte Kassette anzeigte. Flimmern. Diese hier zeigte Dunkelheit.
Er rieb sich das Kinn. Er legte den Kopf schief. Fuhr sich durchs Haar.
Es mußte sich um Zufall handeln. Um einen technischen Defekt. Er war nicht gewillt, allerorts Zeichen zu sehen.
Um seine Phantasie zu beruhigen, machte er mit der betreffenden Kamera, in die eine andere Kassette eingelegt war, eine Testaufnahme. Beim Abspielen erwartete er Dunkelheit. Zu seiner Verwirrung war die Aufnahme tadellos.
Also mußte es an der Kassette liegen.
Er steckte die Kassette in die Kamera, die in der Hollandstraße gelaufen war. Er filmte nur einige Sekunden, stoppte, sah sich die Aufnahme an. Nichts zu beanstanden. Bild von bester Qualität.
Obwohl heller Tag, ließ er die Jalousien hinunter, so daß nur zwei schmale Lichtstreifen auf den Teppich fielen und die Wohnung wie im Dämmer lag. Das Gewehr lehnte er neben sich. Er sah sich die Kassette vom Anfang bis zum Ende an. An keiner Stelle wurde das Band lebendig. Nichts, wirklich nichts war zu sehen. Aber es war aufgezeichnet worden.
In der Mitte drückte er auf Standbild. Mit der Sofortbildkamera knipste er den Fernseher. Gespannt wartete er, daß das Bild erschien.
Es zeigte den Schirm. So dunkel, wie er war.
Beim Anblick des Fotos erinnerte er sich an seinen Gedanken, die fortschreitende Langsamkeit könne töten. Wenn dies stimmte, wenn man durch eine endlose Bewegung, die in der Bewegungslosigkeit endete, an der Ewigkeit anstreifte – überwog darin das Tröstende oder das Entsetzliche?
Noch einmal richtete er die Kamera auf den Bildschirm. Das Auge am Sucherfenster, legte er den Finger auf den Auslöser. Sachte drückte er ihn hinunter. Er bemühte sich, langsamer zu drücken.
Bald, fühlte er, war der Druckpunkt erreicht.
Er drückte noch langsamer. Ein Kribbeln erfaßte seinen Finger. Stieg in seinen Arm. Seine Schulter. Er spürte, daß sich der Druckpunkt näherte, daß jedoch zugleich die Geschwindigkeit seiner Annäherung abnahm.
Das Kribbeln war auf seinen ganzen Körper übergegangen. Ihn schwindelte. Von weither glaubte er ein Pfeifen zu hören, das am Ort seiner Entstehung tosend laut sein mußte.
Er hatte den Eindruck, daß etwas begonnen hatte. Verschiedene Konstanten der Wahrnehmung, wie Raum, Materie, Luft, Zeit, schienen sich miteinander zu verbinden. Alles floß ineinander. Wurde zäh.
Ein Entschluß zuckte in ihm auf. Er drückte den Auslöser durch. Ein Klicken, ein Blitz. Surrend schob sich ein Stück Pappe aus dem Apparat. Rücklings fiel Jonas auf die Couch zurück. Er roch scharf nach Schweiß. Seine Kiefer krampften sich aufeinander.
Das Foto in seiner Hand zeigte den dunklen Bildschirm.
Auf der Reichsbrücke war das letzte Video aufgenommen worden. Zu sehen war das gleichmäßige Fließen der Donau und die Erstarrung der Donauinsel, in deren Lokalen Jonas gern gefeiert und wo er sich Marie zuliebe vor vier Wochen dem bierseligen Trubel des Donauinselfestes ausgesetzt hatte.
Nach einigen Minuten weiteten sich seine Augen. Ohne es bewußt wahrzunehmen, erhob er sich Zentimeter um Zentimeter von der Couch und beugte sich vor, als
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