Die Arbeit der Nacht
und einen Wildfremden tötete. Eine Geiselnahme in einer Bank, bei der eine Geisel nach der anderen erschossen wurde, bis die Polizei das Gebäude stürmte und ihn rettete. Der Amoklauf eines Verrückten. Ein Terroranschlag. Eine Messerstecherei. Gift im Restaurant.
Er hatte sich gewünscht, vor aller Augen durch eine Gefahr gegangen zu sein. Die Auszeichnung zu tragen, eine harte Prüfung bestanden zu haben.
Er hatte ein Überlebender sein wollen.
Ein Auserwählter hatte er sein wollen.
Der war er jetzt.
Mit dem Auto auf der Donauinsel voranzukommen war nicht schwierig, doch er fürchtete, etwas Wichtiges zu übersehen. So machte er sich zu Fuß auf den Weg. Bald stieß er auf ein Geschäft, das Fahrräder und Mofas verlieh. Er erinnerte sich, hier zusammen mit Marie eine jener Fahrradkutschen gemietet zu haben, mit denen man durch italienische Badeorte fuhr.
Abgesperrt war nicht. Die Schlüssel für die Mofas hingen an der Wand. An jedem klebte ein Zettel mit der Kennzeichennummer.
Er setzte sich auf eine dunkelgrüne Vespa, die er mit sechzehn gern gefahren wäre. Seine Eltern hatten keine Ersparnisse gehabt. Das Geld aus seinem ersten Ferienjob hatte nur für eine alte Puch DS 50 gereicht. Und als er sich mit zwanzig einen gebrauchten Mazda gekauft hatte, war er nach Onkel Reinhard der zweite Autobesitzer der Familie gewesen.
Das Gewehr zwischen die Unterschenkel geklemmt, rollte er über die asphaltierten Straßen der Insel. Wieder hatte er das Gefühl, etwas stimme nicht. Nicht allein die Menschen fehlten. Noch etwas vermißte er.
Er stieg ab, ging zum Ufer. Trichterförmig legte er die Hände an den Mund.
»Hallo!«
Er schrie nicht, weil er glaubte, jemand könne ihn hören. Doch für einen Moment nahm es Druck von seiner Brust.
»Hallo!«
Er kickte Steine vor sich her. Kies knirschte unter seinen Sohlen. Er wagte sich zu nahe zum Wasser. Sank ein, die Schuhe wurden naß.
Seine Begeisterung für die Suche nach dem roten Objekt war dahin. Es erschien ihm sinnlos, nach einem Plastikfetzen zu fahnden, der hier vor Tagen vorbeigeschwommen war. Es war kein Zeichen. Es war ein Stück Müll.
Es wurde zunehmend kalt. Dunkle Wolken flogen rasch heran. Wind peitschte in die hohen Gräser am Wegrand. Jonas mußte an das Telefon zu Hause denken. Als ihm die ersten Tropfen ins Gesicht klatschten, wendete er.
8
Er fuhr hoch aus einem Alptraum. Einige wirre Sekunden dauerte es, bis er begriff, daß früher Morgen war und er vor dem Telefon lag. Er sank auf die Matratze zurück.
Geträumt hatte er, daß die Leute wieder in die Stadt strömten. Er ging ihnen entgegen. Einzeln und in kleinen Gruppen kamen sie des Weges. Wie Menschen, die von einem Fußballspiel nach Hause zurückkehrten.
Er wagte nicht zu fragen, wo sie gewesen waren. Sie beachteten ihn nicht. Er hörte ihre Stimmen. Wie sie lachten, wie einer dem anderen einen Witz zurief. Näher als zehn Meter kam er ihnen nicht. Er marschierte in der Mitte der Straße. Sie gingen links und rechts an ihm vorbei. Jedesmal, wenn er auf sich aufmerksam machen wollte, hatte seine Stimme versagt.
Er fühlte sich zerschlagen. Nicht nur, daß er wieder vor dem Telefon übernachtet hatte, er hatte es auch nicht mehr geschafft, sich auszuziehen.
Er kontrollierte, ob der Telefonhörer korrekt aufgelegt war.
Als er in der unteren Küchenlade nach Vollkornbrot suchte, stieß er mit dem Gesäß heftig gegen den Kühlschrank. Das Mobiltelefon in seiner Hosentasche bekam einen Schlag. Zwar war es unwahrscheinlich, daß es Schaden genommen hatte, doch er zog es dennoch heraus, um die Funktionen zu kontrollieren. Unter allen Umständen mußte es heil bleiben. Zumindest die SIM -Card durfte er nicht einbüßen.
Schon hatte er das Gerät wieder eingesteckt, da überkam ihn ein fürchterlicher Verdacht. Mit zitternden Fingern rief er die Ruflisten auf. Er drückte »Gewählte Nummern«. Der oberste Eintrag zeigte seine Festnetznummer an. Gewählt am 16.07. um 16.31 Uhr.
Er stürzte zum Telefon. Auf der Matratze herumtrampelnd, wühlte er in einem Papierstapel, ehe er den Zettel gut sichtbar auf dem Adreßbuch entdeckte.
16.42 Uhr. 16. Juli.
Obwohl er sich vorgenommen hatte, in der Wohnung seines Vaters zu arbeiten, fuhr er richtungslos durch die Stadt. Er nahm den Handelskai Richtung Süden. Als er am Millennium-Tower vorbeikam, blickte er nach oben. Die Sonne blendete ihn. Er verriß das Steuer. Der Wagen schlenkerte kurz. Er stieg hart auf die Bremse. In ruhigerem
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