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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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wollte er in den Fernseher hineinkriechen.
    Ein Objekt trieb auf dem Wasser. Ein rotes Bündel.
    Er spulte zurück. Es war nicht auszumachen, worum es sich handelte. Am ehesten glich es einem Wanderrucksack. Allerdings war nicht anzunehmen, daß ein Rucksack auf dem Wasser trieb, er mußte untergehen. Mehr sprach für ein Stück Plastik. Vielleicht ein Behälter aus Kunststoff. Oder eine Tasche.
    Mehrmals spulte er zurück, um zuzusehen, wie am linken oberen Bildrand ein kleiner roter Fleck auftauchte, der größer wurde, allmählich Konturen gewann, für einen Moment gut zu erkennen war und dann im unteren Bildrand verschwand. Sollte er gleich hinfahren, die Stelle sowie das gesamte Ufer der Donauinsel absuchen oder die Kassette fertig ansehen?
    Er blieb. Mit jagendem Puls saß er auf der Couch, die Beine untergeschlagen, und starrte gierig auf das Wasser der Donau. Er war nicht enttäuscht, als er am Ende des Bandes auf keine weitere Besonderheit gestoßen war. Pflichtschuldig sah er sich die Kassette noch einmal von Anfang bis zum Schluß an, machte die üblichen Untersuchungen mit Standbild und langsamem Rückwärtslauf, ehe er die Autoschlüssel einsteckte und das Gewehr in die Hände nahm.
    Im Vorbeigehen fiel sein Blick auf das Telefon.
    Ach was, dachte er. Es würde nicht gerade jetzt läuten.
    Weil er vor allen Dingen den Standort der Videokamera in Augenschein nehmen wollte, hielt er auf der Reichsbrücke. Gleich als er ausstieg, merkte er, daß etwas anders war.
    Er spazierte umher. Mal zwanzig Meter in diese Richtung, mal in jene. Wind blies ihm ins Gesicht. Es war so kühl, daß er bedauerte, keine Jacke übergestreift zu haben. Er stellte den Hemdkragen auf.
    Etwas stimmte nicht. Er war sich sicher.
    Ungefähr an der Stelle, an der er die Kamera postiert hatte, stützte er die Arme auf das Brückengeländer. Er blickte auf die Donau hinab, die mit mattem Rauschen vorüberfloß. Dieses Rauschen hatte früher der Lärm der Autos und der Lastwagen auf der Brücke verschluckt. Sogar nachts. Doch nicht das Rauschen war es, was ihn irritierte.
    Sein Blick suchte auf dem Wasser die ungefähre Bahn, die das Objekt genommen hatte. Dort hinten war es ins Bild gekommen. Was befand sich dort? Und hier war es aus dem Bild getrieben. Wohin war es geschwommen?
    Er wechselte auf die andere Seite der Brücke. Soweit er sehen konnte, zog sich die Insel nach Nordwesten, rechts und links umspült von der Donau. Hier steckten keine Siebe oder Gitter im Flußbett. Es gab keine bedeutenden Buchten, keine Landzungen. Demnach war es nicht wahrscheinlich, daß das rote Objekt irgendwo festgehalten oder ans Ufer gespült worden war. Suchen mußte er dennoch.
    Wie er so am Brückengeländer stand, die Hände in den Taschen, sich mit dem Bauch anlehnend, fiel ihm ein, was er sich früher häufig ersehnt hatte. Er hatte ein Überlebender sein wollen.
    Oft hatte er sich vorgestellt, wie es wohl sein mochte, um ein Haar einen Zug zu verpassen, der dann im Gebirge verunglückte.
    Alle Details sah er vor sich. Die Bremsen versagten. Der Zug stürzte in einen Abgrund. Waggons krachten ineinander, wurden zermalmt. Wenig später gab es im Fernsehen die ersten Luftaufnahmen vom Schauplatz. Sanitäter bemühten sich um Verletzte, Feuerwehrleute liefen herum, allerorts Blaulicht. Er sah die Bilder in einem Fernseher, der in der Auslage eines Elektrogeschäfts stand. Unausgesetzt mußte er Freunde, die um ihn bangten, am Telefon beruhigen. Marie weinte. Selbst sein Vater war einem Zusammenbruch nahe. Tagelang mußte er erzählen, wie es zu der glücklichen Fügung gekommen war.
    Irrtümlich wurde er zu einem früheren Flug aufgerufen. Eigentlich befand er sich bloß so früh am Flughafen, um Besorgungen zu machen und für Marie etwas Hübsches im Duty-free-Shop auszusuchen. Doch dann ergab es sich, daß er in einem zeitigeren Flugzeug Platz finden könnte. In einer Variante der Phantasie brachte er die Abflugzeiten durcheinander, meldete sich versehentlich für den falschen Flug, durfte aufgrund eines Computerfehlers jedoch einsteigen. Allen Abwandlungen dieser Illusion folgte der Absturz des Fliegers, für den sein Ticket gegolten hatte. In den Nachrichten wurde sein Tod gemeldet. Wieder mußte er verzweifelte Freunde beruhigen. »Ein Irrtum, ich lebe.« Gebrüll im Hörer. »Er lebt!«
    Ein Autounfall, bei dem er einem zerstörten Wagen mit ein paar Schrammen entstieg, während ringsum Leichen lagen. Ein Ziegelstein, der neben ihm einschlug

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