Die Arbeit der Nacht
Tempo glitt er dahin. Sein Herz schlug hart.
Von weitem sah er, daß sich sein Transparent noch immer um den Donauturm drehte. Er fuhr bis an den Eingang. Aus dem Auto wagte er sich nicht. Sein Blick suchte nach einem Anzeichen, daß jemand von seiner Fahne angelockt worden war. Über ihm erdröhnte das rotierende Café. Ein rhythmisches Heulen, das in regelmäßigen Abständen von einem Knacken übertönt wurde. Er ahnte, es würde nicht mehr lange dauern, bis dort oben alles auseinanderflog.
Über die Reichsbrücke gelangte er in die Lassallestraße. Keine zwei Minuten später hielt er vor dem Riesenrad. Das Gewehr in Händen, machte er einen flüchtigen Rundgang. Es war heiß. Wind blies nicht. Wolken waren keine zu sehen.
Überzeugt, daß ihm von außen keine Überraschungen drohten, ging er am Café vorbei in die Geschäftsstelle des Riesenrads. Die technische Zentrale befand sich hinter einer unauffälligen Tür im Shop, wo den Touristen die Miniausführung des Riesenrads und anderer Plunder angeboten worden war.
Er blickte auf den schultafelgroßen Schaltkasten. Anders als im Donauturm fehlte hier jede Beschriftung. Gleichwohl verstand er bald, daß der gelbe Knopf die Stromversorgung des gesamten Systems ein- und ausschaltete. Nachdem er ihn gedrückt hatte, leuchteten Lampen auf. Eine elektrische Anzeige blinkte. Er drückte einen anderen Knopf. Die unterste Gondel, auf die er von seinem Platz an den Pulten durch ein Schaufenster freie Sicht hatte, setzte sich in Bewegung.
Auf einem der Tische lag ein Plakatschreiber. Damit schrieb er seine Telefonnummer auf den Bildschirm eines Computers. Auch auf der Tür hinterließ er eine Nachricht. Den Schreiber steckte er in die Brusttasche seines Hemds.
Er spazierte zum nächsten Würstelstand. Demselben, an dem er bei seinem letzten Besuch gegessen hatte. Aus einem Regal zog er eine Tüte Knabbergebäck. Den Blick nicht von den Gondeln abwendend, aß er sein Frühstück.
Ob er einsteigen sollte?
Zu Fuß durchkämmte er das Gelände des Wurstelpraters. Er schaltete ein, was es einzuschalten gab. Nicht immer gelang es ihm, Kontrolle über das Betriebssystem zu erlangen, aber doch so oft, daß der Vergnügungspark bald von Musik und Gebimmel erfüllt war. Mit der Lautstärke von früher war es freilich nicht zu vergleichen. Dazu hatte er nicht genügend Karusselle und Fliegende Teppiche in Gang bekommen. Und zudem fehlten die Menschen. Doch wenn er die Augen schloß, konnte er sich mit etwas gutem Willen der Illusion hingeben, alles sei wie eh und je. Er stünde in der Nähe des Brunnens, umgeben von angeheiterten Unbekannten. Gleich würde er sich gekochten Maiskolben kaufen. Und am Abend käme Marie aus Antalya zurück.
Die Matratze schaffte er zurück ins Schlafzimmer. Er wechselte den Bettbezug. Am Boden vor dem Telefon mußte er aufräumen. Er stopfte die leeren Chipspackungen und die offen herumliegenden Schokoladeriegel in einen Müllsack. Auch die Getränkedosen warf er dazu. Er kehrte auf. Zuletzt schrubbte er die klebrigen Schmutzränder der Gläser vom Parkett. Während der Arbeit nahm er sich vor, sich nicht mehr derart gehen zu lassen. Wenigstens in seinen vier Wänden mußte er die Ordnung aufrechterhalten.
Er baute die Videokamera vor dem Bett auf. Schaltete ein. Der Bildausschnitt war nicht günstig. Zwar würde er später jedes Detail seines Mienenspiels beobachten können, aber Nutzen würde er aus diesem Video nur ziehen, wenn er die Herausforderung meisterte, die ganze Nacht über starr dazuliegen.
Er stellte den Zoom auf maximale Weite. Es genügte nicht. Er rückte das Stativ einen Meter zurück. Wieder blickte er auf den kleinen Bildschirm. Mit dem Ausschnitt war er zufrieden. Das Bett war in voller Länge im Bild. Nun prüfte er die Funktion der Kamera und der Kassette. Noch eine Überraschung wollte er nicht erleben.
Weil er noch nicht ruhig genug war, um schlafen zu gehen, setzte er sich mit einer Tüte Popcorn vor den Fernseher. Die Kassette, die die Love Parade zeigte, hatte er durch eine Komödie ersetzt. Seit den ersten Tagen seiner Einsamkeit hatte er keinen Film mehr gesehen und somit keine sprechenden, agierenden Menschen.
Mit den ersten Worten der weiblichen Hauptfigur packte ihn solches Entsetzen, daß er abschalten wollte. Er überwand sich. Hoffte, es würde vorbeigehen.
Es wurde schlimmer. Seine Kehle schnürte sich zusammen. Er bekam Gänsehaut. Ihm zitterten die Hände. Seine Beine waren zu schwach, um
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