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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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drei Uhr morgens war. Auf diese Zeit hatte er den Wecker gestellt. Dessen Piepen schallte beständig durch die Wohnung.
    Er ging ins Schlafzimmer. Auf dem Bett lag seine Decke. Zurückgeschlagen, als sei er eben mal ins Bad gegangen. Die Kamera stand da. Auf dem Boden getragene Wäsche. Er schlug auf den Wecker. Der verstummte endlich.
    Er sah sich im Wandspiegel, nackt. Für einen Moment war ihm, als sei er kleiner geworden.
    Er drehte sich um und lehnte sich gegen die Wand. Er kniff die Augen zusammen, legte den Kopf zurück. Das letzte, an das er sich erinnerte, waren Bilder und Gedanken kurz vor dem Einschlafen. Wie er ins Wohnzimmer geraten war, konnte er sich nicht erklären.
    Als er auf der knatternden DS die Stadt Richtung Westen verließ, erinnerte er sich an jene Nacht vor achtzehn Jahren, in der er die gleiche Reise angetreten hatte. Ebenso dunkel war es gewesen, ebenso kalt. Allerdings waren ihm damals regelmäßig zwei parallele Lichter entgegengekommen und mit einem Rauschen an ihm vorbeigesaust. An diesem Morgen fuhr er über einsame Straßen. Er hatte nur einen Rucksack auf dem Rücken getragen, Pumpgun hatte er keine dabeigehabt. Und seinen Kopf hatte ein Helm geschützt.
    Er zog den Reißverschluß der Lederjacke hoch. Er bereute, keinen Schal umgebunden zu haben. Er erinnerte sich noch gut, wie jämmerlich er bei jener ersten Fahrt die ganze Strecke über gefroren hatte, und er wollte mit den Ähnlichkeiten nicht bis zum Letzten gehen.
    Der Mond war riesig.
    Er hatte den Mond noch nie so groß gesehen. Eine volle, makellose, leuchtende Kugel, fast bedrohlich nahe über ihm am Himmel. Als sei sie der Erde näher gerückt.
    Er schaute nicht mehr nach oben.
    Mit gleichbleibender Geschwindigkeit schnurrte das Moped über die Straße. Sein damaliges Gefährt war auf Steigungen beinahe liegengeblieben. Dieses bewältigte jeden Anstieg, ohne merklich an Tempo zu verlieren. Er hatte ein von seinem Vorbesitzer so auffrisiertes Modell erwischt, daß es bei einer Polizeikontrolle sofort aus dem Verkehr gezogen worden wäre.
    Er lehnte sich in die Kurven. Das Tempo, mit dem die DS den Berg hinabsauste, beeindruckte ihn. Seine Augen tränten so stark, daß er sich seine alte Skibrille aufsetzen mußte.
    Ging es eine Weile abwärts, kuppelte er aus und stellte den Motor ab. Lautlos rollte er durch die Nacht. Die zwei Mützen, die er zum Schutz vor der Kälte übereinander trug, zog er vom Kopf. Er hörte nichts als den Wind, der ihm um die Ohren pfiff. Da der Scheinwerfer nur strahlte, wenn der Motor lief, lag die Straße vor ihm im Dunkeln. Von diesen Eskapaden ließ er erst ab, als er fast eine Straßenbiegung übersehen hätte und nur mit knapper Not auf dem Bankett geblieben war.
    In St. Pölten waren seine Finger so steifgefroren, daß er den Tankdeckel erst nach einigen Versuchen aufbekam. Er wünschte sich eine Rast im Warmen, bei einer Tasse Kaffee. Er trank im Tankstellenshop eine Flasche Mineralwasser. Er steckte Kaugummi und einen Schokoladeriegel ein. Am Zeitschriftenständer hingen die Tageszeitungen vom 3. Juli. Die Kühltruhe summte. Im hinteren Bereich des Shops blinkte eine offenbar defekte Neonlampe. Auch hier war es kühl.
    Über diese Straße bin ich gefahren, sagte er zu sich, als er wieder auf dem Moped saß. Der hier fuhr, das war ich.
    Er dachte an den Jungen, der er vor achtzehn Jahren gewesen war. Er erkannte sich nicht. Die Zellen eines Körpers erneuerten sich alle sieben Jahre zur Gänze, hieß es, wodurch man alle sieben Jahre physisch ein neuer Mensch wurde. Und die geistige Entwicklung schuf eine Person zwar nicht neu, veränderte sie jedoch in einem Ausmaß, daß man getrost ebenfalls von einem anderen Menschen sprechen konnte nach so vielen Jahren.
    Was war es also, ein Ich? Denn dieses Ich, das er gewesen war, das war noch immer er.
    Hier war er wieder. Auf einem Moped wie jenem, auf demselben Asphalt. Mit denselben Bäumen und Häusern ringsum, mit denselben Verkehrsschildern und Ortstafeln. Seine Augen hatten all dies schon einmal gesehen. Es waren seine Augen, auch wenn sie sich in der Zwischenzeit zweimal erneuert haben mochten. Der Apfelbaum am Straßenrand, er hatte schon beim letztenmal dagestanden. Jenen Apfel damals hatte Jonas gesehen. Jetzt fuhr er wieder an einem vorbei, gerade jetzt. Vorbeigesaust! Er konnte ihn nicht sehen in der Dunkelheit, doch der Baum war da, und das Bild des Apfels stand deutlich vor ihm.
    Manche Erlebnisse, die Jahre zurücklagen, empfand er

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