Die Arbeit der Nacht
Estrich.
Am Fenster eine halbvolle Kaffeetasse. Er roch. Wasser, vielleicht auch Schnaps, dessen Alkohol verdunstet war.
Das Wohnzimmer, ebenfalls unaufgeräumt. Die Luft war feucht. Die Temperatur lag um mehrere Grad unter jener in den anderen Zimmern. Auf der Suche nach einer Erklärung blickte er um sich. Bilder an der Wand zeigten Stilleben und Landschaften. Über dem Fernseher hing ein Hirschgeweih. Alle Möbel waren rot, das fiel ihm erst jetzt auf. Eine rote Couch, ein Schrank mit rotem Samtbezug, ein karminroter Teppich. Sogar der alte Holztisch hatte nicht nur ein rotes Ziertuch, sondern auch rote Beine.
Jonas stieg die Treppe zum Dachboden hoch. Sie knarrte. Er gelangte zu einer Tür aus gedelltem Leichtmetall. Sie war unversperrt.
Kühle, klare Luft umwehte ihn. Zunächst dachte er, die Fenster seien geöffnet, doch dann sah er die zerschlagenen Scheiben.
In der Mitte des Raumes ein Holzstuhl, dessen Rückenlehne abgerissen war. Darüber baumelte von einem Querbalken ein Strick mit Schlinge.
Nachdem er sich in Attersee-Ort ein kleines Zelt und eine Matte besorgt hatte, gelangte er an den Mondsee. Zwei Irrfahrten führten ihn über Feldwege, doch dann entdeckte er den Platz, an dem er damals gezeltet hatte. Er lag dreißig Meter vom Ufer des Mondsees entfernt, damals Unterholz, nun ein Rasen, der zu einem öffentlichen Badeplatz gehörte. Jonas warf das Gepäck ab und erkundete auf dem Moped die Gegend.
Moderne Zeiten hatten Einzug gehalten. Der Badeplatz bestand aus einer mit Bäumen gesäumten Wiese, die groß war wie ein Fußballfeld. Neben Umkleidekabinen und Toiletten bot der Ort Freiduschen, einen Kinderspielplatz, einen Bootsverleih und einen Kiosk. Jenseits des Parkplatzes lockte die Terrasse eines Gasthauses.
Er baute das Zelt auf. Die Bedienungsanleitung war unverständlich. Müde taumelte er mit Planen und Stangen über die Wiese. Schließlich glückte das Werk doch, und er warf die Matte ins Innere des Zelts. Den Rest des Gepäcks stellte er neben den Eingang. Er ließ sich ins Gras fallen.
Uhr hatte er keine dabei. Die Sonne stand hoch, es mußte nach Mittag sein. Er zog sich das T-Shirt über den Kopf. Streifte Schuhe und Strümpfe ab. Blickte auf den See hinaus.
Hier war es schön. Die Bäume, deren Laub im Wind sanft rauschte. Die Wiese in sattem Grün. Die Sträucher am Ufer. Der See, auf dessen Oberfläche Sonnenstrahlen blitzten. In der Ferne die Berge, die in einen tiefblauen Himmel aufragten. Dennoch mußte er sich bewußtmachen, daß er eine zauberhafte Aussicht genoß. Vermutlich fehlte ihm Schlaf.
Er erinnerte sich an einen Gedanken, mit dem er sich früher oft beschäftigt hatte, mit dem er gespielt und dem er sich in den verschiedensten Ausformungen hingegeben hatte, besonders an idyllischen Orten wie diesem. Er hatte daran gedacht, daß eine beliebige Person der Geschichte, etwa Goethe, nicht mehr Zeuge des Tages wurde, den Jonas gerade erlebte. Denn er war weg.
Tage wie diesen hatte es auch früher gegeben. Goethe wandelte über die Wiesen, sah die Sonne und betrachtete die Berge und badete im See, und es gab keinen Jonas, und für Goethe war all das gegenwärtig. Vielleicht dachte er an die, die nach ihm kamen. Womöglich stellte er sich vor, was sich ändern würde. Goethe hatte einen Tag wie diesen erlebt, und es hatte keinen Jonas gegeben. Den Tag hatte es trotzdem gegeben, ob Jonas oder nicht. Und nun gab es den Tag mit Jonas, aber ohne Goethe. Goethe war weg. Oder besser: Er war nicht da. So wie Jonas nicht dagewesen war an Goethes Tag. Nun erlebte Jonas, was Goethe erlebt hatte, sah die Landschaft und die Sonne, und für den See und die Luft spielte es keine Rolle, ob ein Goethe da war oder nicht. Die Landschaft war dieselbe. Der Tag war derselbe. Und würde in hundert Jahren derselbe sein. Dann aber ohne Jonas.
Dies hatte ihn beschäftigt. Daß es Tage geben würde ohne ihn, daß es Tage geben würde, die ohne ihn wahrgenommen würden. Landschaft und Sonne und Wellen im Wasser, ohne ihn. Jemand anderer würde es sehen und daran denken, daß schon Frühere hier gestanden waren. Dieser Jemand würde vielleicht sogar an Jonas denken. An seine Wahrnehmung, so wie Jonas an Goethe gedacht hatte. Und dann stellte sich Jonas den Tag in hundert Jahren vor, der ohne seine Wahrnehmung verstrich.
Doch nun?
Würde in hundert Jahren jemand den Tag wahrnehmen? War jemand da, der durch die Landschaft spazierte und an Goethe und Jonas dachte? Oder würde der Tag Tag sein
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