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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Fuchs. Herr Fuchs brachte sie an einen Ort, wo alles anders roch, wo die Sonne anders strahlte, wo der Himmel eine Spur dicker, die Luft zäher erschien.
    Die zwei Wochen am Meer waren wunderbar. Er liebte die Wellen, die Muscheln, den Sand, das Essen im Hotel und die Fruchtsäfte. Er durfte Tretboot fahren. Er schloß Freundschaft mit Jungen aus anderen Ländern. Auf dem Korso wurde er wie alle anderen Touristenkinder mit einem Tigerjungen auf dem Arm fotografiert. Er bekam Spielzeugpistolen und Hubschrauber geschenkt. Mit der ganzen Familie unterwegs zu sein machte Spaß. Niemand war mißgelaunt, niemand stritt, und abends wurde es beim Lambrusco so spät, daß auch er nicht zu zeitig zu Bett mußte. Es waren herrliche Ferien gewesen. Und doch galt seine liebste Erinnerung jenen wenigen Stunden des Aufbruchs. Das Ankommen war schön. Der Urlaub war schön. Aber nicht so schön wie das Gefühl, daß es nun losging. Daß jetzt alles passieren konnte.
    Wenige Monate nach jenem Urlaub hatte er Herrn Fuchs auf dem Weg zur Schule getroffen. Er grüßte. Herr Fuchs antwortete nicht. Von seinem freundlichen Lächeln war nichts zu sehen. Er hatte Jonas nicht erkannt.
    Als er die Videokassette einlegte, krampfte sich sein Magen zusammen.
    Der Schläfer ging an der Kamera vorbei, legte sich ins Bett, schlief.
    Seit wann gelang es ihm so leicht, einzuschlafen? Früher hatte er oft eine Stunde ins Dunkel gestarrt. So heftig hatte er sich herumgewälzt, daß er Marie aufgestört hatte, worauf auch sie warme Milch trinken ging oder sich die Füße badete oder Schäfchen zählte. Und nun legte er sich hin und klappte weg wie betäubt.
    Der Schläfer drehte sich auf die andere Seite. Jonas schenkte sich Grapefruitsaft ein. Versonnen blickte er auf das aufgestempelte Ablaufdatum. Er leerte Pistazien in eine Schüssel und stellte sie auf den Couchtisch. Von der Ablage darunter nahm er die Bedienungsanleitung der Kamera.
    Kompliziert war es nicht. Einen Schalter auf A drehen, eine Taste drücken, dann die gewünschte Beginnzeit der Aufnahme eintippen. Um nicht doch noch einmal nachschlagen zu müssen, schrieb er den Vorgang in Stichworten auf die Rückseite eines herumliegenden Kuverts.
    »Na, haben wir eine unruhige Nacht«, sagte er in Richtung Bildschirm, als sich der Schläfer zum drittenmal herumwarf.
    Er trank einen Schluck und lehnte sich zurück. Er legte die Beine auf den Tisch, dabei stieß er die Schüssel mit den Pistazien um. Im ersten Moment wollte er sie einsammeln, dann winkte er ab. Er rieb sich die vom Tragen des Gewehrs schmerzende Schulter.
    Der Schläfer setzte sich auf. Das Gesicht bedeckte er mit den Händen. Er stellte sich hin, den Rücken zur Kamera, und hob die Arme. Die ausgestreckten Zeigefinger wiesen auf die Schläfen.
    So blieb er stehen.
    Bis das Band endete.
    Jonas mußte zur Toilette, doch er hatte das Gefühl, mit der Couch verwachsen zu sein. Nicht einmal zu seinem Glas gelangte er. Die Fernbedienung in der Hand wie ein schweres Gewicht, spulte er zurück. Sah sich den Hinterkopf des Schläfers ein zweites Mal an. Ein drittes Mal.
    Ihn packte das Verlangen, alle Kameras aus dem Fenster zu werfen. Nur die Einsicht, daß dies nichts ändern, ihn bloß jeder Möglichkeit berauben würde, seine Lage zu verstehen, hielt ihn davon ab.
    Irgendwo gab es eine Antwort, mußte es eine geben. Die Welt draußen war groß. Er war nur er. Die Antwort draußen würde er vielleicht nicht finden können. Aber jene an ihm und in ihm, nach der mußte er suchen. Immer weiter.
    Allmählich gewann er die Gewalt über seine Glieder zurück.
    Auf direktem Weg, ohne zuvor die Toilette anzusteuern, ging er ins Schlafzimmer und bereitete eine neue Kassette vor. Er stellte den Wecker. Es war neun. In dieser Nacht brauchte er keine Zeitschaltung.
    Er drückte die Aufnahmetaste. Er ging zur Toilette, putzte sich die Zähne und duschte. Nackt lief er an der dumpf summenden Kamera vorbei. Er wickelte sich in die Decke. Er hatte sich nicht gründlich abgetrocknet. Das Laken unter ihm wurde feucht.
    Gleichförmig drang das Summen der Kamera an sein Ohr. Er war müde. Aber seine Gedanken rasten.

12
    Das Läuten des Weckers erklang von fern. Es war ein peinigendes Geräusch, das sich langsam in sein Bewußtsein fraß. Er tastete nach rechts, nach links. Griff ins Leere. Er öffnete die Augen.
    Er lag in der Wohnküche auf dem blanken Boden.
    Ihn fror. Decke hatte er keine. Ein Blick zur Anzeige an der Mikrowelle verriet ihm, daß es

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