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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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ohne Beobachtung, seiner reinen Existenz überlassen? Und – war es dann noch ein Tag? Gab es etwas Sinnloseres als so einen Tag? Was war die Mona Lisa an so einem Tag?
    Vor Jahrmillionen hatte dies hier schon existiert. Es mochte anders ausgesehen haben. Der Berg mochte ein Hügel oder gar ein Loch gewesen sein und der See die Spitze eines Berges. Einerlei. Es war gewesen. Und niemand hatte es gesehen.
    Aus dem Rucksack zog er eine Tube Sonnenmilch. Er cremte sich ein und legte sich auf ein Handtuch, das er vor dem Zelt auf dem Boden ausgebreitet hatte. Er schloß die Augen. Seine Lider zuckten nervös.
    Im Halbschlaf vermischten sich das Rauschen der Blätter und der sirrende Klang, mit dem der Wind über die Plane des Zelts strich. Gedämpft drang das Plätschern des Sees an sein Ohr. Zuweilen schrak er hoch, weil er meinte, den Ruf eines Vogels vernommen zu haben. Auf allen vieren blickte er zwinkernd um sich. Seine Augen gewöhnten sich nicht an das Licht. Er legte sich wieder auf den Bauch.
    Später meinte er menschliche Stimmen zu hören. Wanderer, die die Aussicht lobten und ihren Kindern etwas zuriefen. Er wußte, daß es Einbildung war. Er sah ihre Rucksäcke und ihre karierten Hemden vor sich. Er sah die Lederhosen der Kinder. Die Wanderschuhe mit den langen Bändern. Die grauen Strümpfe.
    Er verkroch sich vor der Sonne ins Zelt.
    Erst am späten Nachmittag fühlte er sich ausgeschlafen. Im Gasthaus aß er eine Kleinigkeit. Auf dem Rückweg kam er an einem Opel mit ungarischem Kennzeichen vorbei. Auf dem Rücksitz lagen Badetücher und Luftmatratzen. Er erneuerte am Zelt seinen Sonnenschutz, dann spazierte er zum Bootsverleih.
    Starr lagen verschiedene Modelle auf dem Wasser. Er stemmte einen Fuß gegen ein Tretboot. Dumpf prallte es gegen das Nachbarboot. An ihren Kielen gluckste es. Ihr Boden war eine Handbreit hoch bedeckt mit Regenwasser, auf dem Blätter und leere Zigarettenschachteln trieben.
    Zunächst sah er nur die Tretboote. Als er das erste betrat, verlor er das Gleichgewicht und wäre beinahe über Bord gegangen. Einen Fuß auf dem Sitz des Lenkers, den anderen auf jenem des Beifahrers, hielt er nach Alternativen Ausschau. So entdeckte er das Elektroboot. Der Schlüssel hing im Schuppen des Verleihers an einem Haken.
    Die Bedienung war einfach. Er stellte einen Schalter auf 1, drehte das Steuer in die gewünschte Richtung, und der Kahn summte hinaus auf den See.
    Das Gebäude des Bootsverleihs und der Kiosk daneben wurden kleiner und kleiner. Sein Zelt auf der Wiese war nur noch ein heller Punkt. Die Berge auf der anderen Seite des Sees rückten näher. Leise schnitt das Boot eine schäumende Spur ins Wasser.
    Etwa in der Mitte des Sees stoppte er. Hoffentlich würde der Motor wieder anspringen. Um es schwimmend zu erreichen, war das Ufer womöglich zu fern. Er wollte es nicht auf einen Versuch ankommen lassen.
    Er ging mit sich zurate, wie tief der See an dieser Stelle sein mochte. Er malte sich aus, wie das Wasser durch Hexerei mit dem Schnippen eines Fingers verschwunden sein würde. In jenem Moment, ehe es mit dem Boot abwärts ging, würde es von oben gewiß eine wunderbare, interessante neue Landschaft zu betrachten geben. Die nie zuvor jemand gesehen hatte.
    In einem Fach neben dem Fahrersitz fand er neben Mullbinden und Heftpflastern eine staubige Damensonnenbrille. Er reinigte sie und setzte sie auf. Die Sonne blinkte auf dem sich kräuselnden Wasser. Das Boot tanzte schwach, lag schließlich still da. Weit entfernt, am seinem Badeplatz gegenüberliegenden Ufer, parkten Autos unter einem schroffen Felsen. Eine Wolke schob sich vor die Sonne.
    Er erwachte von der Kälte.
    Er setzte sich auf. Er rieb sich Schultern und Arme. Er keuchte, seine Zähne schlugen aufeinander.
    Der Morgen graute. Nur mit einer Unterhose bekleidet, saß Jonas in der Wiese. Zehn Meter entfernt vom Zelt, in dem er sich am Abend schlafen gelegt hatte. Das Gras war feucht vom Morgentau. Zwischen den Bäumen hing Nebel. Der Himmel war grau in grau.
    Das Zelt stand offen.
    Er umrundete es in sicherer Entfernung. Die Wände flatterten im Wind. Die Hinterseite war ausgebeult. Niemand schien sich darin aufzuhalten. Dennoch zögerte er.
    Er fror so schlimm, daß er aufstöhnte. Er hatte sich ausgezogen, weil es im Schlafsack warm gewesen war. Der Schlafsack befand sich noch im Zelt. Zumindest vermutete er es. Seine Kleider lagen neben ihm, ebenso das Gewehr. Am Abend hatte er es mit ins Zelt genommen, das wußte er mit

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