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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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vergangenen Tagen am Strand von Antalya erzählen.
    Mit dem Moped fuhr er in die Brigittenauer Lände. Er wußte, daß in keinem Auto ringsum Schlüssel steckten. So holte er Maries Fahrrad aus dem Keller. Die Strecke zurück zum Spider bewältigte er in fünf Minuten. Er war nicht schlecht in Form. Er fuhr in die Hollandstraße, um zu arbeiten. Das Gefühl, Zeit vertrödelt zu haben, trieb ihn an.
    Am Nachmittag aß er in einem Gasthaus in der Preßgasse, das für seine hundertfünfzig Jahre alte Schank bekannt gewesen war. Auf der Tafel, auf der Getränke und Preise standen, löschte er die Schrift. Mit Kreide notierte er: Jonas, 24 . Juli.
    In den Keller nahm er das Gewehr mit und die Taschenlampe. Er knipste sie an. Gleich darauf schaltete er das Kellerlicht ein.
    »Jemand da?« rief er mit Baßstimme.
    Der Wasserhahn gluckerte.
    Die Waffe im Anschlag, die Taschenlampe gegen den Lauf geklemmt, tappte er zum Abteil seines Vaters. Wieder stieg ihm der beißende Geruch von Öl und Werkstoff in die Nase. Er mochte sich täuschen, aber ihm war, als habe sich der Duft in den vergangenen vierundzwanzig Stunden verstärkt.
    Wieso stand die Abteiltür offen? Hatte er sie vergessen zu schließen?
    Ihm fiel ein, daß das Licht ausgefallen war und er sich aus dem Keller getastet hatte, ohne sich um das Abteil zu kümmern. Mit der offenen Tür hatte es wohl seine Richtigkeit.
    Die Taschenlampe befestigte er in Kopfhöhe an einem Wandhaken, so daß sie das ganze Abteil bestrahlte, wenn die fünfzehn Minuten der Zeitschaltung abgelaufen waren. Ehe er das Gewehr in die Ecke stellte, warf er einen Blick über die Schulter.
    »Hallo?«
    Der Wasserhahn machte pling . An der Wand flackerte das Kellerlicht. Die Staubfäden und Spinnweben rund um die Lampe zitterten in einem Luftzug.
    Er zog einen Stapel Fotos aus dem ersten Karton. Es waren Schwarzweißbilder. Schienen aus den fünfziger Jahren zu stammen. Seine Eltern in der Natur. Auf Wanderungen. Zu Hause. Bei Firmenfeiern. Mutter als Hexe verkleidet, Vater als Scheich. Manche klebten zusammen, als sei Saft darüber ausgeschüttet worden.
    Ein Foto, das er aus dem zweiten Karton zog, zeigte ihn selbst. Fünf oder sechs mochte er sein, angezogen wie ein Cowboy. Ein Schnurrbart war ihm aufgeschminkt. Rings um ihn grinsten drei kostümierte Jungen in die Kamera. Einer von ihnen, ihm fehlten die oberen Vorderzähne, präsentierte lachend einen Degen. Jonas erinnerte sich an ihn. Mit Robert hatte er den Kindergarten besucht. Demnach war dieses Bild dreißig Jahre alt.
    Einige weitere Fotos aus der Kindergartenzeit. Auf einigen mit seiner Mutter. Mit seinem Vater selten. Auf diesen war zumeist ein Kopf oder ein Paar Beine abgeschnitten. Seine Mutter hatte ungern fotografiert.
    Ein Bild von seinem ersten Schultag. In Farbe, es war vergilbt. Er hatte eine Schultüte im Arm, die nicht viel kleiner war als er selbst.
    Das Ganglicht fiel aus.
    Er richtete sich auf. Das Gesicht halb dem Gang zugekehrt, lauschte er. Er schüttelte den Kopf. Wenn er nun Geräusche hörte, würde er sie ignorieren. Sie waren nichts, sie bedeuteten nichts.
    Ein Foto von ihm, wie er ein Tigerjunges auf dem Arm hielt und gezwungen in die Kamera lächelte: Urlaub am Meer.
    Noch immer erinnerte er sich an die jährlichen Ferien in norditalienischen Badeorten an der Adria. Die ganze Familie mußte mitten in der Nacht aufstehen, weil der Bus um drei abfuhr. Er sah die Wanduhr vor sich, die halb eins anzeigte, und fühlte deutlich das Gefühl von Abenteuer und Glück, mit dem er seinen kleinen karierten Rucksack gepackt hatte.
    Von einem Freund seines Vaters, der ein Auto besaß, wurden sie zum Busbahnhof gebracht. Urlaub am Meer war eine Unternehmung der ganzen Familie, und deshalb begrüßte er am Bahnsteig Tante Olga und Onkel Richard, Tante Lena und Onkel Reinhard, die er in der Finsternis nur an den Stimmen erkannte. Zigaretten glommen auf, jemand schneuzte sich, die Verschlüsse von Bierdosen knackten, fremde Männer schlossen Wetten darauf ab, wann der Bus bereitgestellt würde.
    Die Fahrt. Die Stimmen der übrigen Reisenden. Das Schnarchen einiger. Rascheln von Papier. Allmählich wurde es hell, konnte er Gesichter ausmachen.
    Eine Rast auf einem Parkplatz, in einer ihm unvertrauten Umgebung. Hügel, auf denen das Gras im Tau glänzte. Vogelgezwitscher. Grelles Licht und tiefe, fremdländische Stimmen in einer Toilette. Der Fahrer, er hatte sich als Herr Fuchs vorgestellt, machte mit ihm Scherze. Er mochte Herrn

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