Die Arbeit der Nacht
so gegenwärtig, daß er meinte, sie könnten keinesfalls zehn oder fünfzehn Jahre her sein, so nah und so wahrhaftig erschienen sie ihm. Als würde die Zeit Kurven beschreiben, sich zurückwinden, so daß Zeitpunkte, die Jahre auseinanderlagen, plötzlich nur einen Schritt voneinander entfernt waren. Als hätte Zeit eine räumliche Konstante, die man sehen und fühlen konnte.
Es dämmerte.
Etwas war anders als Minuten zuvor. Es hatte mit ihm zu tun. Er stellte fest, daß er mit den Zähnen klapperte.
Kurz nach Melk an der Donau, als sich die Landschaft vor ihm öffnete, näherte er sich einem Haus, das in ihm das Gefühl wachrief, hier schon einmal gewesen zu sein. Aus der Entfernung wirkte es renovierungsbedürftig. Der Verputz fehlte. Auch das kam ihm bekannt vor. Mit diesem Haus hatte es etwas auf sich.
Ein großes Gebäude mit einem weiträumigen Parkplatz davor, auf dem ein einziges Auto stand. Ein eierschalenfarbener Mercedes aus den Siebzigern.
Jonas kippte das Moped daneben auf den Ständer. Er spähte durch die Seitenscheibe. Auf dem mit Fell bezogenen Beifahrersitz lagen eine Schachtel Himbeerbonbons und eine Dose Bier. Am Rückspiegel hing ein Duftbaum. Der Aschenbecher war herausgezogen, enthielt jedoch nur Münzen.
Er machte sich auf die Suche nach dem Hauseingang. Beim Gehen stach es in seinen Sehnen so heftig, daß er lief wie eine Ente. Er blieb stehen, rieb sich die Knie. So wurden auch seine klammen Finger durchblutet. Auf den Feldern hinter dem Haus lag Frühnebel. Der Wind raschelte in einer Plane, die einen Holzstoß abdeckte.
Über dem Eingang prangte ein Schild: Jausenstation Landler-Pröll . Der Name war ihm fremd.
Er nahm das Gewehr vom Rücken und stellte den Rucksack ab. Hier stimmte etwas nicht. Er wußte mit Sicherheit, daß er erst in Steyr Rast gemacht hatte. Und ebenso gewiß war er, hier nie wieder durchgekommen zu sein. Woher kannte er also diese Jausenstation? Bildete er sich das nur ein?
Zudem wunderte ihn, daß der Eingang auf der der Straße abgewandten Hausseite zu finden war. Auch am Straßenrand wies kein Schild auf das Lokal hin.
Das Haustor war nicht abgesperrt. Im Flur lagen ohne jede Ordnung Pantoffeln und lehmverkrustete Straßenschuhe herum. Links sah er durch eine Milchglastür die Umrisse einer Schank. Ein Aufgang rechts schien zu privaten Räumlichkeiten zu führen.
»Jemand hier?«
Die Tür zur Schankstube knarrte. Er stampfte mit den Füßen auf, räusperte sich. Verharrte auf der Stelle. Kein Laut zu vernehmen. Ab und zu drückte Wind gegen die Fenster.
Er schaltete Licht an. Die Birnen, ohne Schirm nackt von der Decke hängend, waren grell. Er drehte wieder ab. Mittlerweile tauchte die Morgensonne den Raum in ein unwirkliches Halblicht. Es genügte, um sich zurechtzufinden.
Das Gastzimmer war aufgeräumt. Bronzene Aschenbecher standen auf karierten Tischtüchern. Jeder Tisch war mit Strohblumen geschmückt. Auf den Bänken lagen Zierkissen mit aufgestickten Mustern. Eine Wanduhr zeigte die Zeit falsch an. Die oberste Zeitung auf dem Stapel neben der Kaffeemaschine war jene vom 3. Juli.
Er kannte diesen Ort. Oder zumindest einen, der diesem ähnlich sah.
Seinen Plan, die Reise von damals exakt nachzuzeichnen und erst in Steyr haltzumachen, ließ er fahren. Er stellte die Espressomaschine an. Im Kühlschrank fand er Eier und Speck. Er machte eine Pfanne heiß.
Zum Essen trank er Fruchtsaft und Kaffee. Er schaltete das alte Radio über der Schank an. Rauschen. Er knipste es aus. Mit einem Tuch löschte er die Schrift auf der Menütafel. Er nahm ein Stück Kreide und schrieb: Jonas, 25 . Juli.
Er trampelte die Holzstiege empor. Wie erwartet führte sie ihn in eine Privatwohnung. Er sah Jacken an einer Garderobe, wieder Schuhe, leere Weinflaschen.
»Hooo!« rief er mit rauher Stimme. »Hooo!«
Eine enge Küche. An der Wand tickte eine Uhr. Es roch abgestanden. Unter seinen Schuhen klebte der Boden, wodurch jeder Schritt ein schmatzendes Geräusch verursachte.
Er ging nach nebenan. Ein Schlafzimmer. Ein einzelnes Bett darin. Zerwühlt. Auf dem Boden lag eine Unterhose.
Ein weiteres Zimmer. Augenscheinlich wurde es als Abstellraum benützt. In aberwitzigem Durcheinander fanden sich darin Leitern, Bierkisten, Töpfe mit Wandfarbe, Pinsel, Zementsäcke, ein Staubsauger, alte Zeitungen, Toilettenpapier, ölverschmierte Arbeitshandschuhe, eine löchrige Matratze. Erst nach einer Weile merkte er, daß kein Boden verlegt war. Er stand auf dem
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