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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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beinahe gelegt. Über diese rasche Genesung war er erstaunt. Sein Immunsystem schien gut zu arbeiten.
    Beim Frühstück kehrte Schlag auf Schlag die Erinnerung an den Traum von vergangener Nacht zurück. Er griff nach Stift und Notizheft, um die Handlung wenigstens in groben Zügen festzuhalten.
    Er war in eine Höhle gekommen, die von dunklem rotem Licht erfüllt war und in der man nicht weiter als einige Meter sah. Andere Menschen waren um ihn, doch sie nahmen ihn nicht wahr, und er konnte sich ihnen nicht mitteilen. Die Höhle führte an einem Felsen entlang. Dieser war ein dreißig Meter hoher und an allen Seiten ebenso breiter Würfel. Der Gang um den Würfel war zwei Meter breit.
    Er kletterte an einer Strickleiter hoch. Oben erwartete ihn ein Plateau. Etwa sieben Meter über ihm war die Decke der Höhle. Scheinwerfer waren daran angebracht. Sie strahlten mattes rotes Licht auf ihn.
    Er sah drei Körper auf dem Plateau liegen. Ein junges Pärchen auf der einen Seite, einen jungen Mann auf der anderen. Er erkannte alle drei. Er war mit ihnen zur Schule gegangen. Sie mußten schon Jahre tot sein, sahen entsetzlich aus. Obgleich sie Skelette waren, hatten sie Gesichter. Verzerrte Gesichter und verkrampfte Glieder. Der Mund stand offen. Die Augen quollen hervor. Die Beine waren verdreht. Aber es waren Skelette.
    Der allein liegende Mann war Marc, neben dem er vier Jahre in der Schule gesessen hatte. Aber es war nicht sein Gesicht. Jonas kannte das Gesicht. Ihm fiel nicht ein, wem es gehörte.
    Noch immer sprach niemand von den umhergehenden Polizisten und Sanitätern mit ihm. Er war nicht imstande, das Wort an sie zu richten. Auf eine rätselhafte wortlose Weise erfuhr er, daß die drei mit Rattengift vergiftet worden waren oder sich selbst vergiftet hatten. Strychnin führte zu furchtbaren Krämpfen und einem qualvollen Ende.
    Es war warm auf diesem in der Höhle eingesperrten Felswürfel. Warm und still. Nur ab und zu ertönte ein Geräusch. Als ob Wind in eine Plastikplane fuhr.
    Und die Leichen waren da.
    Die Gesichter der Toten waren plötzlich direkt vor ihm. Im Moment darauf konnte er sie nicht mehr sehen.
    Er begriff, daß es etwas mit ihm zu tun hatte. Hier war etwas verborgen. Rattengift, Höhle , notierte er. Laura, Robert, Marc tot. Marc fremdes Gesicht. Krämpfe, Verwesung. Stille. Rotlicht. Ein Turm. Ahnung: In Felswand Wolfsvieh eingemauert . Dahinter das Schlimmste des Schlimmen .
    Am Ende des Häuserblocks fand er im fünften Stock eine unversperrte Wohnung, die er für geeignet hielt. Der Blick vom Balkon war geradezu ideal, er konnte hier sogar zwei Kameras postieren. Er schrieb die Adresse auf und markierte die Stelle im Stadtplan.
    Ebenfalls zwei Kameras teilte er der Heiligenstädter Brücke zu. Eine sollte in die Brigittenauer Lände hineinfilmen, die zweite auf der anderen Seite die Brücke selbst und die Abfahrt zur Heiligenstädter Lände ins Bild rücken. Wenn er eine Kamera auf dem Döblinger Steg aufbaute, die zur Brücke hinauffilmte, und eine zweite für die entgegengesetzte Richtung, hatte er nicht nur lückenlose Aufnahmen, sondern bekam auch ansprechende Bilder, und er mußte sich bis zu dieser Stelle nur einer einzigen fremden Wohnung bedienen.
    Spittelauer Lände, Roßauer Lände, Franz-Josef-Kai, Schwedenplatz. Den Wagen auf den Straßenbahnschienen abgestellt, schrieb er hier die dreizehnte Kamera in seinen Plan. Das bedeutete, es wurde Zeit, sich dem anderen Kanalufer zu widmen.
    Blitzartig wandte er sich um.
    Der Wind blies. Das Laub der Bäume neben den Würstelständen raschelte.
    Starr lag der Platz da. Die Fenster der Apotheke, unbeleuchtet. Der Eissalon. Der Abgang zur U-Bahnstation. Die Rotenturmstraße.
    Er drehte sich im Kreis. Allerorts Erstarrung. Er hätte geschworen, ein Geräusch gehört zu haben, das er nicht einordnen konnte. Das von jemandem verursacht worden war.
    Er tat so, als schreibe er etwas in sein Notizheft. Die Augen nach rechts und links rollend, bis sie schmerzten, hielt er mit gesenktem Kopf Ausschau. Er wartete, ob sich das Geräusch wiederholte. Wieder kehrte er sich ruckartig um.
    Nichts.
    Er überquerte den Donaukanal. Kamera 14 reservierte er für die Kreuzung Schwedenbrücke und Obere Donaustraße. An der Ecke zur Unteren Augartenstraße durchsuchte er ein Haus, um wieder einmal einen höheren Standpunkt für die Kamera nutzen zu können. Er stieß auf zwei offene Wohnungen. Die obere nahm er. Es standen kaum Möbel darin, und seine Schritte

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