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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Taschenmesser und anderen Sensationen, welche es vor den Blicken der Mutter zu verbergen galt. Er mußte sich beschäftigen. So spielte er oft Floß. Ein Spiel, das ihn auch über regnerische Nachmittage rettete, wenn er gesund war. Da war ein umgedrehter Tisch das Floß. Lag er mit Fieber neben dem Schrank, war es das Bett.
    Er trieb im Meer. Es war sonnig und warm. Er war unterwegs zu verheißungsvollen Orten, an denen es Abenteuer zu bestehen und Freundschaft mit großen Helden zu schließen galt. Aber er brauchte Vorräte für die Reise. Also schlich er unter Vorwänden durch die Wohnung, stibitzte aus der Schlecklade Kaugummi, Karamelstangen und Kekse, erbettelte sich einige Scheiben Brot, entwendete unter Mutters Nase eine Flasche Limonade. Mit der Beute kehrte er aufs Floß zurück.
    Er stach wieder in See. Es war unverändert sonnig und warm. Die Wellen schaukelten das Floß hin und her, und er mußte seine Habseligkeiten nahe an sich ziehen, damit das salzige Wasser nicht alles durchnäßte.
    Noch einmal legte er an, denn Amerika war weit, und er hatte noch immer zu wenige Vorräte. Er brauchte Bücher. Comic-Hefte. Papier und Stift zum Schreiben und Zeichnen. Er brauchte mehr anzuziehen. Er brauchte verschiedene nützliche Gegenstände, die in den Schubladen des Vaters zu finden waren. Einen Kompaß. Einen Feldstecher. Ein Kartenspiel, mit dem er den Bösewichten Geld abnehmen würde. Ein Messer, das selbst auf Sandokan Eindruck machen würde. Zudem mußte für den Tiger von Malaysia ein Gastgeschenk zur Besiegelung ihrer Freundschaft bereit sein. Mutters Perlenkette konnte er mit Eingeborenen tauschen.
    Er brauchte mannigfache Dinge, und er war erst zufrieden mit seiner Ausrüstung, wenn er im Bett kaum noch Platz hatte und an allen Seiten von Decken, Kochlöffeln und Wäscheklemmen bedrängt wurde. Ein durch und durch wohliges Gefühl bereitete ihm der Gedanke, alles zum Überleben Nötige um sich gesammelt zu haben. Er brauchte keine Hilfe von außen. Er hatte alles.
    Dann erschien Mutter zur Inspektion und wunderte sich, wie es ihm in so kurzer Zeit gelungen war, so viel Verbotenes zusammenzuraffen. Einiges durfte er nach längerem Bitten behalten, und so segelte das Floß wieder hinaus aufs Meer, vom Schwarzen Korsar um einige Schätze erleichtert.
    Jonas rüttelte am Schrank. Der bewegte sich kaum. Es würde ihm einige Anstrengungen abverlangen, das Stück nach draußen zu befördern. Umdrehen würde er es müssen, weil es auf Füßen stand und der Schlitten in der Normalposition unbrauchbar wäre.
    8 . 4 . 1977 . Bauchweh.
    Am 8. April vor fast dreißig Jahren hatte er neben diesem Schrank gelegen und Bauchschmerzen gehabt. Er erinnerte sich nicht daran, nicht an den Tag, nicht an die Schmerzen. Aber diese eckigen Zeichen stammten von ihm. Genau in dem Moment, als er dieses B, dieses A, dieses U geschnitzt hatte, war ihm übel gewesen. Ihm. Jonas. Er war das gewesen. Und er hatte keine Ahnung gehabt, was kommen würde. Er hatte nichts von den Prüfungen in den höheren Klassen gewußt, nichts von der ersten Freundin, vom Moped, vom Schulabschluß, vom Geldverdienen. Oder von Marie. Er hatte sich verändert, war erwachsen, ein ganz anderer geworden. Aber diese Schrift war noch immer da. Und wenn er diese Zeichen betrachtete, sah er eingefrorene Zeit.
    Am 4. März 1979 hatte er Grippe gehabt und Tee trinken müssen, den er damals nicht mochte. In Jugoslawien lebte Tito noch, in den USA war Carter Präsident, in der Sowjetunion herrschte Breschnew, und er lag mit Grippe neben dem Schrank und wußte nicht, was es bedeutete, daß Carter an der Macht war oder daß Tito bald starb. Er hatte sich um sein neues Spielzeugauto gekümmert, ein schwarzes mit der Nummer 1, und Breschnew hatte für ihn nicht existiert.
    Als er diese Zeichen geschnitzt hatte, war die spätere Unglücksbesatzung der Challenger noch am Leben gewesen, der Papst war neu und hatte nicht gewußt, daß Ali Agca bald auf ihn schießen würde, und der Falklandkrieg hatte noch nicht begonnen. Als er dies geschrieben hatte, da hatte er noch nichts gewußt von dem, was kam. Und die anderen auch nicht.
    Das Rattern der Räder des Schlittens auf dem steinernen Boden hallte im Haus wider. Er hielt an. Lauschte. Er erinnerte sich an das Gefühl, etwas stimme nicht, das ihn in der Brigittenauer Lände beunruhigt hatte, und an den Eindruck, vor dem Gasthaus Haas beobachtet zu werden. Er ließ Schlitten samt Schrank stehen und lief hinaus auf die

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