Die Arbeit der Nacht
Straße.
»Hallo!«
Stakkatoartig drückte er die Hupe des Lkws. Er blickte in alle Richtungen, sah zu den Fenstern hoch.
»Heraus! Sofort!«
Einige Minuten wartete er. Er tat, als sei er in Gedanken versunken, schlenderte umher, die Hände in den Hosentaschen, leise pfeifend. Dann und wann drehte er sich um, stand starr, schaute und horchte.
Er ging wieder an die Arbeit. Er schob den Schlitten hinaus, und kurz darauf stand der Schrank auf der Ladefläche des Lkw. Blieb nur noch das Bett. Aber für diesen Tag reichte es.
Im engen Kellergang irritierte ihn etwas. Er blieb stehen. Sah sich um. Ihm fiel nichts auf. Er gab sich Zeit, sich zu sammeln. Er kam nicht darauf, was es war.
Er ging zum Abteil seines Vaters. Mit tiefer Stimme räusperte er sich. Die Tür riß er so heftig auf, daß sie gegen die Wand prallte. Er lachte roh. Er blickte über die Schulter. Er schüttelte die Faust.
Ein Foto von ihm und Frau Bender. Lachend, den Arm nach hinten um sie geschlungen, saß er auf ihrem Schoß. Sie rauchte eine Zigarette. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Glas Wein, neben einer Vase mit verwelkenden Blumen und der Flasche.
Er konnte sich nicht entsinnen, daß sie getrunken hatte. Vermutlich bemerkte ein Kind so etwas nicht. Das hier entsprach nicht dem Bild, das er sich von ihr bewahrt hatte. In seiner Erinnerung lebte eine freundliche, selbstverständlich gepflegte alte Dame. Die Frau auf dem Foto blickte nicht freundlich, sondern stierte in die Kamera. Sie wirkte nicht sehr gepflegt, und unter einer Dame stellte er sich grundsätzlich etwas anderes vor. Frau Bender sah aus wie eine schäbige Hexe. Aber er hatte sie damals gemocht, und er mochte sie jetzt.
Hallo, altes Mädchen, dachte er. So weit weg.
Beim Betrachten des staubigen Fotos fiel ihm ein, womit sich die Nachbarin leidenschaftlich gern die Zeit vertrieben hatte. Über Fotografien, vorzugsweise solchen aus der Kriegszeit, hatte sie ausgependelt, ob jemand noch lebte, und dabei hatte sie Jonas die Geschichte des Betreffenden erzählt.
Er schloß die Augen, preßte den Zeigefinger gegen die Nasenwurzel. Ein gerades Schwingen bedeutete lebendig , ein kreisförmiges tot . Oder war es umgekehrt? Nein, es stimmte.
Er streifte den Ring, den Marie ihm geschenkt hatte, vom Finger und öffnete den Verschluß der Silberkette, die er um den Hals trug. Er fädelte den Ring ein und versuchte den Mechanismus wieder zu schließen, was mit seinen zitternden Fingern schwierig war. Endlich gelang es.
Er stapelte einige Schachteln zu einem Pult. Die Taschenlampe knipste er an und hängte sie an den Wandhaken. Er legte das Foto auf die oberste Schachtel. Er streckte den Arm aus. Die Kette mit dem Ring baumelte über seinem Gesicht auf dem Foto. Der Arm schwankte zu stark, er mußte ihn aufstützen.
Der Ring stand bewegungslos in der Luft.
Ein schwaches Pendeln setzte ein.
Es wurde stärker.
Der Ring pendelte vor und zurück, in einer geraden Linie.
Jonas blickte sich um. Er trat auf den Gang. Ein dicker Staubfaden, der vor der Lampe tanzte, warf einen unruhigen Schatten. Unablässig war das Tropfen des Wasserhahns zu hören. Durchdringend der Geruch von Werkstoff. Nach Öl roch es hingegen gar nicht mehr.
»Komm jetzt heraus«, rief er in mildem Ton.
Er wartete einen Moment, dann kehrte er ins Abteil zurück. Er hielt die Hand wieder über das Foto, diesmal über Frau Benders Gesicht. Den Ellbogen stemmte er auf die Schachtel, den Unterarm stützte er mit der freien Hand.
Bewegungslos verharrte der Ring über dem Foto. Er begann zu zittern, zu pendeln. Pendelte stärker. Beschrieb einen Kreis. Der Kreis war deutlich zu erkennen.
Wie oft hatte Frau Bender das gleiche getan. Wie oft war sie über Fotos gesessen und hatte Verstorbene ausgependelt. Und nun tat er es über einem Bild von ihr. Und sie stand nicht neben ihm, sondern war seit mehr als fünfzehn Jahren tot.
Er griff in eine der Schachteln und förderte eine Handvoll Bilder zutage. Er selbst mit einer Schultasche. Mit einem Tretroller. Mit einem Badmintonschläger in der Wiese. Er mit Spielkameraden.
Er betrachtete das Bild. Vier Kinder, eines davon er selbst, beim Spielen im Hinterhof, in dem jetzt das Gerümpel von Familie Kästner lag. Stöcke steckten in der Erde, ein kleiner bunter Ball war zu sehen, im Hintergrund stand eine Plastikwanne voll Wasser, in der Gegenstände trieben.
Er legte das Foto auf sein Pult. Er streckte den Arm aus, hielt die Kette über das Abbild seines Gesichts. Ein
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