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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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versichernden Blick in sein Notizheft nahm er zwei der Kameras mit.
    In der Wohnung roch es streng. Er hielt die Luft an, bis er auf dem Balkon stand. Die Kameras postierte er wie vorgesehen. Eine blickte auf die Lände hinab, die andere war der Heiligenstädter Brücke zugekehrt. Weil er die Uhr zu Hause liegengelassen hatte, zog er das Mobiltelefon heraus. Es war Mittag. Er kontrollierte die Uhren an den Kameras. Die Zeiten stimmten überein. Er überschlug, wie lange er für sechsundzwanzig Kameras benötigen würde. Er programmierte den Start der Aufnahme für 15 Uhr.
    Er kam schneller voran als erhofft. Um halb eins bereitete er schon an der Roßauer Kaserne alles vor, um Viertel vor eins überquerte er wieder den Donaukanal, und kurz vor halb zwei stand er vor seinem Haus. Ihm blieb über eine Stunde. Er hatte Hunger. Er überlegte. Seine Gans würde erst spätabends fertig werden.
    In der Kantine des Brigittenauer Hallenbads roch es nach altem Fett und kaltem Rauch. Vergebens suchte er in der Küche ein Fenster zur Straße, um zu lüften. Er stellte zwei Konservendosen in die Mikrowelle.
    Beim Essen durchblätterte er die Kronen Zeitung vom 3. Juli. Semmelbrösel knisterten darin, auf manchen Seiten klebten Sauceflecken. Das Kreuzworträtsel war halb ausgefüllt, die fünf Fehler im Suchbild waren angekreuzt. Ansonsten unterschied sich diese Ausgabe nicht von jenen, die er an anderen Orten in die Hände bekommen hatte. Auf der Auslandsseite ein Bericht über den Papst. Im Inlandsteil Spekulationen über eine bevorstehende Regierungsumbildung. Der Sport widmete sich der Fußballmeisterschaft. Auf den Fernsehseiten wurde ein beliebter Showmaster porträtiert. All diese Artikel hatte er schon Dutzende Male studiert. Und keinen Hinweis auf besondere Vorkommnisse gefunden.
    Als er den Artikel über den Papst las, mußte er an eine Prophezeiung denken, die seit Ende der siebziger Jahre in verschiedenen Magazinen und Sendungen erwähnt worden war, mal ernsthaft, meist ironisch: Der aktuelle würde der vorletzte Papst sein. Schon als Kind hatte ihm diese Weissagung angst gemacht. Er hatte gerätselt, was sie bedeutete. Würde die Welt untergehen? Ein Atomkrieg ausbrechen? Und später, als Erwachsener, hatte er spekuliert, vielleicht würde sich die katholische Kirche grundlegend reformieren, auf ein gewähltes Oberhaupt verzichten – wenn das Orakel denn stimmte, mußte er sich in Erinnerung rufen.
    Es hatte nicht gestimmt.
    Denn Jonas war sicher, daß es auf dem Petersplatz in Rom nicht anders aussah als auf dem Wiener Heldenplatz oder dem Salzburger Bahnhofsplatz oder dem Hauptplatz von Domzale.
    Er schob den leeren Teller beiseite und trank sein Wasser aus. Durch das Fenster zur Schwimmhalle schaute er auf das Becken. Gedämpft drang gleichförmiges Plätschern an sein Ohr. Das letztemal war er mit Marie hiergewesen. Dort drüben. Da war sie mit ihm geschwommen.
    Mit der Serviette wischte er sich den Mund ab, dann schrieb er auf die Menütafel: Jonas, 31 . Juli.
    Um 14.55 Uhr hielt er mit dem Spider in der Mitte der Kreuzung Brigittenauer Lände und Stifterstraße. Er wollte bereits fahrend ins Bild kommen. Um nicht beim Start gefilmt zu werden, hatte er die Kamera an dieser Kreuzung auf 15.02 Uhr programmiert. Ein Zeitfenster von zwei Minuten genügte ihm.
    Die Hände in den Taschen, schlenderte er um den Wagen, kickte mit der Schuhspitze gegen die Reifen, lehnte sich gegen die Motorhaube. Der Wind blies heftig. Über ihm krachte ein Fensterladen gegen eine Wand. Er blickte zum Himmel empor. Es waren wieder Wolken aufgezogen, doch sie waren weit genug entfernt, daß er hoffen konnte, die Kameras rechtzeitig abzuräumen. Wenn nur der Sturm sie nicht umkippte.
    14.57 Uhr. Er wählte seine Festnetznummer.
    Der Anrufbeantworter schaltete sich ein.
    14.58 Uhr. Er wählte Maries Handynummer.
    Nichts.
    14.59 Uhr. Er wählte eine zwanzigstellige Phantasienummer.
    Keine Verbindung .
    15.00 Uhr. Er drückte das Gaspedal durch.
    Zwischen Döblinger Steg und Heiligenstädter Brücke erreichte er über 120 Stundenkilometer. Er mußte hart bremsen, um die Kurve zur Brücke noch zu meistern. Mit quietschenden Reifen ging es hinab zur Heiligenstädter Lände. Er gab Gas, schaltete, gab Gas, schaltete, gab Gas, schaltete. Obwohl er sich auf die Straße konzentrieren mußte, nahm er für einen Moment die Kamera auf dem Steg wahr, unter dem er in der nächsten Sekunde hinwegbrauste.
    Auf Höhe der Friedensbrücke stand die

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