Die Arbeit der Nacht
entschlossen, ihn auf der Stelle mitsamt dem Funkgerät aus dem Fenster zu werfen. Jonas schaltete das Gerät ein. Als der Wirt das Rauschen hörte, stürzte er herbei und setzte den Notruf ab. Zwei Stunden später landete der Hubschrauber, der Leo ins Krankenhaus flog.
Die Wirtin weinte. Der Wirt schlug Jonas auf die Schulter und schenkte ihm ein Eis. Sein Vater bestellte Essen, denn es hieß, sie seien alle eingeladen. Jonas dachte, es werde noch mehr Lob oder Eis geben, doch nach ein paar Tagen wurde nicht mehr von der Angelegenheit gesprochen. Auch von einem Journalisten, der etwas in der Lokalzeitung bringen wollte, war keine Rede mehr gewesen.
Im Wald streifte er bald die Jacke über und zog den Reißverschluß zu. Es schien hier länger nicht geregnet zu haben. Bei jedem Schritt, den er auf dem Pfad hinauf zur Almhütte machte, stieg eine kleine Wolke aus Erde und Staub auf. Er erinnerte sich, daß er als Kind aus Angst vor den Zecken, die, wie er irrtümlich glaubte, vor allem in den Bäumen lauerten, eine Kapuze getragen hatte. Jetzt wäre ihm sogar eines dieser widerlichen Geschöpfe ein Trost gewesen.
Er meinte zu wissen, welche Richtung er einschlagen mußte. Zu seiner Überraschung jedoch kam ihm nichts bekannt vor. Erst oben vor der Hütte, bei der er Milch geholt und eines Tages den Spazierstock empfangen hatte, stiegen lebendige Bilder in ihm auf.
Einmal hatte er einen Spielkameraden in den Urlaub mitbringen dürfen, der selbstverständlich, der Vater wünschte es, Kost und Quartier aus eigener Tasche bezahlen mußte. Er hatte sich für Leonhard entschieden. Und mit Leonhard, nun fiel es ihm wieder ein, war er auch an diesem Ort gewesen. Sie waren um das Haus geschlichen und hatten so getan, als seien sie Indianer, die die Ranch überfallen wollten. Als der riesige Alte in der Tür erschienen war, hatte die Angreifer der Mut jäh verlassen, sie hatten den Trapper verlegen gegrüßt und waren im Unterholz verschwunden.
Das Gewehr über der Schulter, den Bauernhut auf dem Kopf, sah er sich auf der Anhöhe um. Einige Minuten rastete er. Sollte er in das Haus einbrechen? Doch er spürte weder Hunger noch Durst. So verließ er die Lichtung und wanderte weiter bergwärts.
Er erkannte nichts.
Zuweilen drang ein Knacken an sein Ohr. Es klang, als sei jemand auf einen Ast getreten. Jonas stand still.
Er bezwang die Furcht, die in ihm aufstieg. Vergangene Nacht hatte er bewiesen, daß er keine Angst zu haben brauchte. Niemand bedrohte ihn. Was er hörte, war Einbildung, Überreizung, war Zufall und Natur. Oder jedenfalls das, was von ihr übrig war. Vielleicht ein Stück Holz, das brach. Ohne Einwirkung von außen. Er war allein.
»Du bist ja auch nicht mit dabei«, sagte er, wobei er sich über die Schulter blickte. Er wiederholte den Satz und mußte laut lachen, als habe er einen guten Witz gemacht.
Die Uhr an seinem Mobiltelefon zeigte halb sechs an. Der Akku war beinahe leer. Ihm fiel auf, daß er kein Sendesignal empfing. Das beunruhigte ihn. Obwohl er dazu keinen Anlaß hatte, denn wen wollte er anrufen? Und doch, es war wie ein Hinweis, zu weit gegangen zu sein. Er drehte um.
Er machte größere Schritte.
In ihm kam etwas. Wurde stärker.
Um sich abzulenken, rief er sich in Erinnerung, wie er als Kind in diesen Wäldern das Etzelgrab gesucht hatte. Er hatte davon sprechen gehört. Der Legende nach war der Hunnenkönig auf einem Zug durch Österreich gestorben und in einem Wald beigesetzt worden. Jeder Hügel konnte sein Grab sein, und wenn Jonas die Stelle fand, würde es ihn reich und berühmt machen. Mit Leonhard war er auch durch den Wald gezogen. Bei jeder größeren Erdaufschüttung hatten sie einander angesehen und mit fachmännischer Miene die Wahrscheinlichkeiten besprochen. Allein hatte er nur am Waldrand, in Sichtweite des Ferienhauses oder des Gasthofs gesucht.
Der Weg war stark verfarnt. Es blieb nicht aus, daß Jonas über verborgene Steine stolperte. Zweimal schlug ihm das Gewehr hart in die Seite, so daß ihm die Luft wegblieb. Er ärgerte sich, es mitgenommen zu haben, es war ihm ja doch zu nichts nutze.
Als sei er gegen eine Wand geprallt, blieb er stehen. In der Zeitspanne einer langen Sekunde wurde ihm klar, daß er gerade eine Glocke gehört hatte. Eine Kuhglocke.
Da – links von ihm wiederholte sich das Läuten.
»Na warte, jetzt kannst du etwas erleben!« brüllte er.
Das Gewehr vor der Brust, stürmte er in die Richtung, aus der er das Läuten vernommen zu haben
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