Die Arche
Boden. Es war
kalt hier, aber das war im ganzen Keller so gewesen. Er wartete, bis
sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten und die
großzügigen Dimensionen erfassen konnten. Hier und dort
ragten Metallhalterungen oder Anschlussrohre aus Boden, Wänden
und Decke, aber die dazugehörigen Geräte und
Analyseinstrumente waren entfernt worden. Der Raum war vollkommen
leer und sehr sauber.
Er ging an den Wänden entlang. Die Atmosphäre war nicht
besonders angenehm, aber was immer er empfand – die leichte
Panik, das schwache Gefühl einer Präsenz –, konnte
auch psychosomatisch bedingt sein. »Was ist denn nun wirklich
geschehen?«, fragte er.
H stand noch immer an der Tür. »Es kam in diesem Raum zu
einem Unfall, der nur Sukhois Projekt betraf. Sie wurde verletzt,
aber nicht lebensgefährlich, und war bald völlig
wiederhergestellt.«
»Sonst wurde aus ihrem Team niemand verletzt?«
»Das ist ja das Merkwürdige daran. Es gab sonst
niemanden – Sukhoi hatte immer allein gearbeitet. Andere Opfer
waren nicht zu beklagen. Die Instrumente waren leicht
beschädigt, aber bald erwies sich, dass sie in begrenztem
Maße zur Selbstreparatur fähig waren. Sukhoi war bei
Bewusstsein und ansprechbar, und wir gingen davon aus, dass sie in
den Keller zurückkehren würde, sobald sie wieder auf den
Beinen war.«
»Und?«
»Sie stellte eine seltsame Frage, bei der sich mir, wenn Sie
den Ausdruck gestatten, die Haare sträubten.«
Clavain ging zur Tür zurück und stellte sich neben H.
»Nämlich?«
»Sie fragte, was aus dem zweiten Forscher geworden
sei.«
»Dann hatte sie doch einen Hirnschaden erlitten. Falsche
Erinnerungen.« Clavain zuckte die Achseln. »Eigentlich
nicht verwunderlich, oder doch?«
»Sie machte sehr detaillierte Angaben zu diesem anderen
Forscher, Mr. Clavain. Sie kannte sogar seinen Namen und seine
Vergangenheit. Der Mann heiße Yves, Yves Mercier, behauptete
sie, und er sei zur gleichen Zeit im Rostgürtel angeworben worden wie sie selbst.«
»Aber diesen Yves Mercier gab es nicht.«
»Niemand mit diesem oder einem ähnlichen Namen hatte
jemals im Château gearbeitet. Wie gesagt, Sukhoi war immer
Einzelkämpferin gewesen.«
»Vielleicht hatte sie im Unterbewusstsein das Bedürfnis,
die Verantwortung für den Unfall auf eine andere Person
abzuwälzen und produzierte deshalb einen
Sündenbock.«
H nickte. »So ähnlich dachten wir auch. Aber warum
solche Schuldgefühle wegen eines kleinen Unfalls? Niemand war
ums Leben gekommen, auch an der Ausrüstung war kein
größerer Schaden entstanden. Wir hatten durch diesen
Unfall sogar mehr gelernt als vorher in wochenlanger mühsamer
Kleinarbeit. Sukhoi hatte sich nichts vorzuwerfen, und das wusste sie
auch.«
»Dann hatte sie einen anderen Grund, sich den Namen
auszudenken. Das Unterbewusstsein geht manchmal seltsame Wege. Es
muss nicht unbedingt für alles, was sie sagte, eine hieb- und
stichfeste Begründung geben.«
»Genau so argumentierten auch wir, aber Sukhoi ließ
sich nicht beirren. Mit fortschreitender Genesung wurden die
Erinnerungen an ihre Arbeit mit Mercier sogar noch konkreter. Sie
beschrieb ihn bis ins Kleinste – sein Aussehen, seine
Lieblingsspeisen und -getränke, seinen Humor; sogar seine
Geschichte; was er getan hatte, bevor er ins Château kam. Und
wenn wir sie zu überzeugen suchten, dass es Mercier nie wirklich
gegeben hätte, wurde sie hysterisch.«
»Dann war sie geistig verwirrt.«
»Alle einschlägigen Tests waren negativ, Mr. Clavain.
Wenn sie Wahnvorstellungen hatte, dann drehten sie sich einzig und
allein um die Existenz dieses Mercier. Und das gab mir zu
denken.«
Clavain sah ihn an und nickte ihm auffordernd zu.
»Ich habe recherchiert«, fuhr H fort. »An die Rostgürtel- Archive – jedenfalls soweit sie die
Seuche überstanden hatten – war nicht allzu schwer
heranzukommen. Und wie sich herausstellte, bestätigten sie
gewisse Aspekte von Sukhois Geschichte mit bestürzender
Genauigkeit.
»Zum Beispiel?«
»Es hatte tatsächlich einen Yves Mercier gegeben, und er
war auch im Karussell geboren worden, wo Sukhoi behauptet
hatte.«
»Der Name kommt bei den Demarchisten sicher nicht selten
vor.«
»Wahrscheinlich nicht. Allerdings gab es nur diesen einen
Mercier. Und auch sein Geburtsdatum stimmte genau mit Sukhois
Erinnerungen überein. Der einzige Unterschied war, dass dieser
– der echte – Mercier schon seit vielen Jahren tot war, er
war, kurz nachdem die Schmelzseuche das Glitzerband
Weitere Kostenlose Bücher