Die Arche
sie mit Fleischstücken gefüttert, und sie
wusste bis zu diesem Augenblick nicht so genau, wie ihre
Kerkermeister wirklich aussahen.«
Jetzt war verhaltene Begeisterung aus Hs Stimme zu hören.
»Dann passierte etwas Merkwürdiges. Einen Tag später
öffnete sich in der Haut des Wesens eine Wunde, die immer
größer wurde. Das Loch blutete nicht und sah sehr
symmetrisch und sauber aus. In seinem Innern verbargen sich
bewegliche Muskeln. Die Wunde wurde zum Maul und bildete wenig
später die ersten menschlichen Vokale. Nach einigen Tagen
brachte die Kreatur schon erkennbare Wörter zustande, und noch
ein paar Tage später baute sie daraus einfache Sätze. Noch
unheimlicher war freilich, dass sie von ihrem Opfer nicht nur die
Fähigkeit zu sprechen übernommen, sondern auch seine
Erinnerungen und seinen Charakter in sich aufgesogen und mit ihrer
eigenen Persönlichkeit verschmolzen hatte.«
»Wie grauenvoll«, sagte Clavain.
»Mag sein.« H schien nicht überzeugt.
»Für eine Spezies, die interstellaren Handel trieb und
damit rechnen konnte, vielen anderen Zivilisationen zu begegnen, war
dies sicherlich eine nützliche Strategie. Warum eine fremde
Sprache nicht einfach auf biochemischer Stufe decodieren, anstatt
über Übersetzungsalgorithmen zu brüten? Friss deinen
Handelspartner auf, und du wirst ihm ähnlicher. Die Gegenseite
müsste zwar einverstanden sein, aber vielleicht war diese Art
der Geschäftsbeziehungen vor Millionen von Jahren durchaus
akzeptiert.«
»Wie haben Sie das alles erfahren?«
»Man hat so seine Mittel und Wege, Mr. Clavain. Ich war mir
der Existenz der Mademoiselle am Rande schon bewusst gewesen, bevor
sie mir bei dem Alien zuvorkam. Ich hatte mein Einflussnetz in Chasm
City, und sie hatte das ihre. Meistens operierten wir in
verschiedenen Kreisen, doch hin und wieder berührten sich unsere
Sphären. Ich wurde neugierig und wollte mehr erfahren. Aber sie
wehrte viele Jahre lang alle Versuche meinerseits ab, das
Château zu unterwandern. Erst als sie die Kreatur in ihrer
Gewalt hatte, ließ ihre Aufmerksamkeit nach. Das
rätselhafte Alien faszinierte sie wohl allzu sehr, und so gelang
es mir, meine Agenten in dieses Gebäude einzuschleusen. Zebra
haben Sie doch kennen gelernt? Sie war eine von ihnen. Nachdem sie so
viel wie möglich in Erfahrung gebracht hatte, bereitete sie
alles für meine Machtübernahme vor. Aber das war lange nach
Skades Besuch.«
Clavain ließ sich das Gehörte durch den Kopf gehen.
»Dann muss Skade von dem Alien gewusst haben?«
»Natürlich. Aber Sie sind Synthetiker, Mr. Clavain
– müssten Sie dann nicht auch darüber im Bilde
sein?«
»Ich weiß ohnehin schon mehr, als mir lieb ist.
Deswegen habe ich mich ja zur Fahnenflucht entschlossen.«
Sie verließen das Gefängnis und gingen weiter. Wie bei
dem Raum mit dem Palankin war Clavain froh, wieder draußen zu
sein. Vielleicht ging ja die Phantasie mit ihm durch, oder die Qualen
der einsamen Kreatur hatten sich tatsächlich in die
Atmosphäre eingebrannt. Das Gefühl von Enge und
grauenhafter Angst legte sich erst, als das Gewölbe hinter ihm
lag.
»Wo führen Sie mich jetzt hin?«
»Zuerst in den Keller, um Ihnen etwas zu zeigen, das Sie
interessieren dürfte, und dann zu einigen Personen, die ich
Ihnen gerne vorstellen möchte.«
»Haben diese Personen etwas mit Skade zu tun?«, fragte
Clavain.
»Hat nicht alles irgendwie mit Skade zu tun? Ich denke, als
sie das Château besuchte, ist etwas geschehen, das sie
verändert hat.«
H ging mit ihm zu einem Fahrstuhl, einem offenen Korb aus
Eisengestänge und feinem Maschendraht. Der Boden war ein kalter
Metallrost mit vielen Löchern. H schob das quietschende
Scherengitter zu und verriegelte es, und schon ging es abwärts.
Zuerst bewegte sich der Kasten so langsam, als wollte er bis in den
Keller eine Stunde brauchen, doch mit der Zeit wurde das klapprige
Ding so schnell, dass der Fahrtwind kräftig durch den
Gitterboden pfiff.
»Skades Mission galt als gescheitert«, bemerkte Clavain
über das Poltern und Kreischen hinweg.
»Nicht unbedingt aus der Sicht der Mademoiselle. Bedenken
Sie: ihr Einfluss durchdrang Chasm City bis in den letzten Winkel. In
gewissen Grenzen tanzte alles nach ihrer Pfeife. Ihre Sphäre
schloss auch den Rostgürtel und alle großen
demarchistischen Machtzentren mit ein. Ich denke, sie hatte sogar die
Ultras in der Hand oder konnte sie jedenfalls zwingen, für sie
zu arbeiten. Nur auf die Synthetiker hatte sie
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