Die Arche
Seit Galianas
Rückkehr waren zehn Jahre vergangen, aber wenn sie seine
Gedanken richtig las – und es bestand kein Anlass, daran zu
zweifeln –, wusste Clavain noch immer nicht genau, was damals
eigentlich geschehen war.
Er war auf dem gleichen Wissensstand wie das übrige
Mutternest. Galianas Schiff war im All feindlichen Aliens begegnet,
Maschinenwesen, die unter dem Namen ›die Wölfe‹
bekannt geworden waren. Die Wölfe hatten das Schiff
überfallen und waren gewaltsam in das Bewusstsein der Besatzung
eingedrungen. Clavain wusste, dass sie Galiana verschont hatten, und
dass ihr Körper noch immer am Leben erhalten wurde; er wusste
auch, dass sich in ihrem Schädel ein Parasit eingenistet hatte,
der offenbar von den Wölfen stammte. Was er nicht ahnte und nach
Skades Informationen auch nie vermutet hatte, war, dass Galiana noch
einmal zu Bewusstsein gekommen und für einen – gar nicht so
kurzen – Moment bei klarem Verstand gewesen war, bevor der Wolf
aus ihr gesprochen hatte.
Skade hatte nicht vergessen, wie sie Galiana belogen hatte. Sie
hatte ihr vorgegaukelt, Clavain und Felka seien bereits tot.
Zunächst war ihr das nicht leicht gefallen. Galiana war für
sie wie für jeden Synthetiker eine Respektsperson. Sie war die
Mutter, die Königin der Synthese. Doch das Nachtkonzil hatte Skade darauf hingewiesen, dass ihre Verantwortung
gegenüber dem Mutternest Vorrang vor ihrer Ehrfurcht
gegenüber seiner Führerin genieße. Es sei ihre
Pflicht, die klaren Momente zu nützen, um möglichst viel
über die Wölfe in Erfahrung zu bringen, und dazu müsse
sie alles von Galiana fernhalten, was diese ablenken könnte. Das
möge momentan schmerzlich sein, aber, so hatte das Nachtkonzil
beteuert, auf lange Sicht sei es der bessere Weg.
Mit der Zeit hatte Skade das auch eingesehen. Schließlich
hatte sie eigentlich nicht Galiana selbst belogen, sondern nur einen
Schatten dessen, was Galiana einst gewesen war. Aber natürlich
zog eine Lüge die nächste nach sich, und deshalb hatten
Clavain und Felka nie von diesem Gespräch erfahren.
Skade zog ihre mentalen Sonden zurück und verharrte auf der
üblichen Intimitätsebene. Clavain hatte nun Zugang zu ihren
Oberflächenerinnerungen, ihren sensorischen Wahrnehmungen und
ihren Empfindungen – oder vielmehr zu einer kaum merklich
›frisierten‹ Version davon. Zugleich sah Remontoire genau
so viel wie er erwartete – doch auch in seinem Fall hatte Skade
das Bild so eingefärbt und zugeschnitten, wie es für ihre
Zwecke günstig war.
Das Beschleunigungsnetz zog sie ins Zentrum der Kugel neben die
beiden anderen. Sie verschränkte die Arme unter den Brüsten
und ließ sie auf der gewölbten Notepad-Platte ruhen, von
der immer noch die neuesten Erkenntnisse in ihr
Langzeitgedächtnis strömten.
Clavain machte sich bemerkbar. [Skade. Schön, dass du zu
uns kommst.]
Ich habe eine Erhöhung der Kampfbereitschaft festgestellt,
Clavain. Ich nehme an, das hat mit dem Demarchisten-Schiff zu
tun?
[Es ist sogar noch etwas interessanter. Sieh es dir selbst
an.]
Clavain bot ihr eine Direktverbindung zum Sensornetz des Schiffes
an. Skade befahl ihren Implantaten, sie mit den üblichen Filtern
und den von ihr bevorzugten Einstellungen in ihr Sensorium zu
integrieren.
Für einen durchaus nicht unangenehmen Moment geriet die Welt
aus den Fugen. Sie selbst, ihre beiden Gefährten, der Raum, in
dem sie schwebten, die riesige Nachtschatten mit ihrem
schnittigen, tiefschwarzen Rumpf – alles verlor an Substanz und
löste sich auf.
Dafür hing nun inmitten einer sich ständig
verändernden, geometrisch komplexen Wolke von Verbotszonen und
sicheren Korridoren der Gasriese vor ihr. Waffenplattformen und
Beobachtungssatelliten rasten wie ein aufgebrachter Bienenschwarm auf
engen Bahnen um ihn herum. Dicht davor schwebte das
Demarchisten-Schiff, das die Nachtschatten schon seit
längerem verfolgte. Es berührte bereits die oberste
Atmosphäreschicht von Tangerine Dream und begann sichtbar zu
glühen. Der Schiffsführer riskierte es, in die
Atmosphäre einzutauchen, in der Hoffnung, sich unter ein paar
hundert Kilometern Wolkendecke verstecken zu können.
Ein Manöver, überlegte Skade, das nur aus blanker
Verzweiflung geboren sein konnte.
Transatmosphärische Flugbahnen waren immer riskant, auch
für Schiffe, die eigens für Flüge durch die oberen
Schichten von jupiterähnlichen Gasriesen gebaut waren. Der
Schiffsführer musste vor dem Eintauchen abbremsen und konnte
auch nur
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