Die Arche
was ihr nicht schon vorher aufgefallen wäre. Der
Bürokratengnom des Konvents war so besessen von seinen
Vertragsbestimmungen und Zusatzklauseln, dass er zu einem richtigen
Bluff vermutlich gar nicht fähig war. Und was das Schwein
anging, hatte er mit ziemlicher Sicherheit die Wahrheit gesagt.
Scorpio war der Obrigkeit bekannt. Er war ein Verbrecher, ein
heimtückischer Mörder mit einer Vorliebe für
menschliche Opfer. Chung hatte dem Konvent mitgeteilt, sie wolle ihn
in seine Obhut überstellen. Wahrscheinlich hatte sie den Spruch
mit Laser abgesetzt, bevor die Nachtschatten nahe genug heran
war, um ihn abhören zu können.
Und Clavain, zum Teufel mit ihm, hatte versäumt, das Richtige
zu tun und die Demarchisten bei der ersten Gelegenheit einfach
abzuschießen. Darüber hätte der Konvent zwar gemurrt,
aber Clavain wäre vollkommen im Recht gewesen. Niemand konnte
erwarten, dass er von dem Kriegsgefangenen wusste, und er war nicht
verpflichtet, Fragen zu stellen, bevor er das Feuer eröffnete.
Stattdessen hatte er das Schwein gerettet.
»… verlangen wir, dass der Gefangene unverzüglich
an uns ausgeliefert wird, unversehrt und ohne vorherige
Neuralinfiltration durch Synthetiker-Systeme. Wir setzen dafür
eine Frist von sechsundzwanzig Standardtagen. Ich brauche wohl nicht
eigens zu betonen…« Der Sprecher des Konvents hielt inne
und rieb sich schadenfroh die Hände, »… Ich brauche
wohl nicht eigens zu betonen, dass die Beziehungen zwischen der
Synthese und dem Konvent schwer belastet würden, sollte diesem
Ersuchen nicht stattgegeben werden.«
Skade hatte verstanden. Der Gefangene besaß keinerlei
materiellen Wert für den Konvent. Aber als Coup – als
Trophäe – war sein Wert unermesslich. Der Zusammenbruch von
Recht und Ordnung war im Hoheitsraum des Konvents ohnehin weit
fortgeschritten, und die Schweine waren selbst eine mächtige
Gruppe, die sich nicht immer an die Gesetze hielt. Die
Verhältnisse waren schon schlimm genug gewesen, als Skade in
geheimer Mission für das Konzil Chasm City besucht hatte und
dort fast ums Leben gekommen wäre, und seither hatten sie sich
sicher nicht gebessert. Wenn man das Schwein wieder einfangen und
hinrichten könnte, wäre das eine eindringliche Warnung an
alle anderen Schurken, vor allem an die kriminellen Schweineparteien.
Skade selbst hätte die gleiche Forderung gestellt, wäre sie
an der Stelle des Sprechers gewesen.
Doch das machte die Entscheidung über das Schicksal des
Schweins nicht einfacher. Vor dem Hintergrund von Skades
Informationen bestand an sich keine Notwendigkeit, der Forderung
stattzugeben. Der Konvent würde schon bald jede Bedeutung
verlieren. Der Baumeister hatte ihr versichert, die Exodus-Flotte
wäre in siebzig Tagen startklar, und sie hatte keinen Anlass, an
dieser Schätzung zu zweifeln.
Siebzig Tage.
In achtzig oder neunzig Tagen wäre die Sache gelaufen. In
knapp drei Monaten würde das alles keine Rolle mehr spielen.
Doch darin lag das Problem. Die Existenz der Flotte und der Grund dafür mussten um jeden Preis geheim gehalten werden. Die
Synthetiker mussten den Eindruck erwecken, als setzten sie alles ein,
um einen militärischen Sieg zu erringen, mit dem alle neutralen
Beobachter ohnehin rechneten. Jedes andere Verhalten würde
innerhalb und außerhalb des Mutternests Misstrauen erregen. Und
wenn die Demarchisten die Wahrheit entdeckten, bestünde eine
– sehr geringe, aber nicht zu vernachlässigende –
Chance, dass sie noch einmal alle Kräfte zusammennahmen und mit
dieser Information Verbündete gewannen, die sich bislang neutral
verhalten hatten. Momentan waren sie mit ihren Kräften am Ende,
aber wenn sie sich mit den Ultras zusammentäten, könnten
sie für Skade doch noch zu einem echten Hindernis auf dem Weg zu
ihrem größten Ziel werden.
Nein. Man musste die Rolle des sicheren Siegers weiterspielen, und
dazu war eine Geste des Entgegenkommens gegenüber dem Konvent
unerlässlich. Skade musste eine Möglichkeit finden, das
Schwein auszuliefern, und es musste geschehen, bevor jemand Verdacht
schöpfte.
Ihre Wut erreichte einen neuen Höhepunkt. Sie schaltete die
Aufzeichnung ab, der Sprecher erstarrte und wurde zur schwarzen
Silhouette. Sie schritt durch ihn hindurch, und er stob auseinander
wie ein Schwarm aufgescheuchter Raben.
Kapitel 6
Mit ihrem Privatflugzeug wäre die Inquisitorin im
Handumdrehen in Solnhofen gewesen, aber sie zog es vor, sich an der
nächsten größeren Ansiedlung davor
Weitere Kostenlose Bücher