Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
lange dauern, dann werden meine Kräfte ganz verschwinden, dachte sie, und was tun wir dann? Das heißt, wenn wir überhaupt jemals hier herauskommen. Was konnte Harihn nur zu einem solchen Verrat bewogen haben? Habe ich ihn wirklich so falsch eingeschätzt?
Die Magusch fragte sich, was inzwischen wohl in Nexis geschehen sein mochte. Miathan würde die Macht des Kessels benutzen, um die Sterblichen, die er so sehr verachtete, zu unterdrücken, mit Eliseth, Bragar und Davorshan als bereitwilligen Komplizen. Was war aus ihren Freunden geworden? Hatten Vannor und Parric überlebt? Was war mit Maya und D’arvan und ihrer Mutter? Während die Armreifen ihre Kräfte gelähmt hatten, war es für sie unmöglich gewesen, zu bemerken, ob einer der Magusch gestorben war. Sie erzitterte trotz der warmen Luft des Raumes und sehnte sich nach Forrals dickem, altem Umhang, den sie bei dem Schiffbruch verloren hatte. Sein vertrautes Gewicht auf ihren Schultern war ihr immer ein Trost gewesen. Aber der Umhang und Forral waren nicht mehr da, ihr war kalt, und sie war allein in diesem dunklen Zimmer.
Aurian, verloren in traurige Gedanken, schreckte auf, als eine schwarze, kalte Nase ihr Gesicht streifte. »Habe ich es mir doch gedacht«, sagte Shia. »Du schläfst ja fast. Es wird Zeit, daß ich die Wache übernehme.«
Die Magusch ließ sich nicht lange bitten. Es war eine zu große Erleichterung, für eine Weile alle Sorgen vergessen zu können. Sie durchquerte das Zimmer bis zu dem Platz, an dem ihre Freunde schliefen, und legte sich neben Anvar. Wie immer schien er ihre Gegenwart zu spüren und drehte sich um, um einen Arm um sie zu legen und im Schlaf ihren Namen zu murmeln. Aurian schmiegte sich eng an ihn und spürte, wie ihre Last langsam leichter wurde. Wenigstens habe ich Shia und Bohan, dachte sie, und vor allem Anvar. Nie habe ich einen besseren Entschluß gefaßt als damals, als ich ihn vor Miathan gerettet habe. Was für ein guter Freund er mir geworden ist. Mit diesem tröstlichen Gedanken schlief sie ein.
Am nächsten Tag – falls es denn Tag war – stießen sie auf die Falle. Nach einem kärglichen Frühstück, das ihnen dennoch kaum etwas an Vorrat übrig ließ, nahmen sie ihren müden Trott wieder auf und stiegen über die gesichtslose, steinerne Spirale mit ihren leeren Räumen weiter nach oben, bis ihre Füße vor Anstrengung kaum weiter konnten. Aurian war der Verzweiflung nahe. Hatte sie sich in ihrer letzten Hoffnung, hier das verlorene Wissen der Drachen zu finden, getäuscht? Und spielte es überhaupt noch eine Rolle? Wir sind dazu verdammt, hier zu sterben, dachte sie. Dieser Berg wird unser Grab sein, und damit ist die Sache erledigt. Plötzlich blieb Shia, die wie gewöhnlich voranging, stehen. »Magie!« knurrte sie.
»Ja, du hast recht«, sagte Anvar. »Aurian, siehst du es auch?« Ein paar Schritte vor ihnen lag ein silbernes Schwirren in der Luft, wie das trügerische Flirren der Luft über Steinplatten an einem heißen Tag. Es hing wie ein Vorhang über dem Durchgang und blockierte ihnen den Weg.
Gefahr hin oder her, Aurian war froh, daß sie endlich auf etwas stießen, das die Monotonie ihres Marsches unterbrach. Sie machte vorsichtig einen Schritt nach vorn, in der einen Hand den Stab, die andere mit der Handfläche nach vorn ausgestreckt. Als sie die schwirrende, seidenartige Verzerrung erreichte, geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Das Schimmern verschwand, und alles Licht im Tunnel ging aus. In ihrer Überraschung machte Aurian noch einen Schritt nach vorn und entzündete einen Ball Maguschlicht über ihrem Kopf. Als das Licht aufflackerte, ertönte ein tiefes, donnerndes Knirschen von oben und zog ihren Blick empor. Der Atem blieb ihr in der Kehle stecken, als ein gewaltiger, quadratischer Block sich aus der Decke löste und auf sie zustürzte.
Für Aurian geschah alles mit alptraumhafter Verzögerung. Der Block schien hinunterzuschweben, während sie nach vorn stürzte. Sie rutschte aus, fiel zu Boden, rutschte noch ein Stück weiter und blieb schließlich so liegen, daß sie ihre Gefährten sehen konnte. Was sie sah, war entsetzlich.
»Aurian!« Anvar stürzte vor und hechtete in den sich schließenden Spalt zwischen Stein und Boden. Der massive Block donnerte unaufhaltsam herunter … und rammte Anvar mit einem grellen Knirschen in den Boden, das die Wände erzittern ließ.
»Anvar!« Aurians Schrei zerriß ihre Kehle. Ihr Maguschlicht ging aus und stürzte sie in die Dunkelheit.
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