Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
waren inzwischen schäbig und dem Zerfall nahe, denn der ganze Bezirk war als Wohngegend aus der Mode gekommen. Aurian jagte durch großräumige Zimmer, bis sie schließlich eines fand, von dem eine hohe Fenstertür auf einen Balkon führte. Sie öffnete die Läden, trat hinaus und prallte angesichts des Tumults direkt vor und unter ihr sogleich wieder zurück. Auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes kämpfte ein Mann auf seinem Pferd gegen die Menge an, die versuchte, ihn aus dem Sattel zu reißen. Ein blondes Mädchen hockte vor ihm im Sattel und klammerte sich wie eine Närrin hysterisch an ihn, so daß sie seinen Schwertarm behinderte, während er versuchte, die Angreifer abzuwehren.
Aurian schnaubte verächtlich und wandte sich ab, um einen Blick direkt nach unten zu werfen, in der Hoffnung, Forral zu erspähen. Sie entdeckte ihn auch tatsächlich – verstrickt in eine Auseinandersetzung mit einem der Kaufleute. Dann gefror ihr schier das Blut, als sie ein dünnes, tödliches Flammenband sich einen Weg durch die Menge bahnen sah. Die Fackelträger kamen immer näher! Bei den Göttern! Wenn die Barrikade Feuer fing, war Forral verloren! Angetrieben von schrecklicher Angst, rasten Aurians Gedanken. Es gab nur eine Möglichkeit, diesen Wahnsinn zu beenden – und nur für sie gab es diese Möglichkeit. Regen, dachte sie. Ich muß Regen bringen! Und doch zogen sich ihre Eingeweide vor Entsetzen zusammen, als sie sich daran erinnerte, was ihr zugestoßen war, als sie das letzte Mal versucht hatte, ihre magischen Kräfte zu benutzen. Sie dachte an ihr hoffnungsloses Umherirren in dem dunklen Labyrinth, ihre Furcht, ihre Hilflosigkeit. Sie hatte seit damals ihre Magie noch nicht wieder benutzt – würden ihr ihre Kräfte immer noch gehorchen? Würde sie dasselbe Schicksal wieder erleiden? Sie hatte keine wirkliche Erfahrung mit der Wettermagie, die ohnehin eine schwierige und erschöpfende Angelegenheit war. Aber sie mußte Forral retten …
Ihre Finger klammerten sich um das abgeschrägte, metallene Geländer des Balkons, und Aurian zwang, wie man es sie gelehrt hatte, ihr Bewußtsein aus ihrem Körper heraus. Als sie den Himmel absuchte, fluchte sie leise. Blau. Helles, makelloses Blau, das zum Horizont hin in weiß flirrender Hitze verblaßte. Wo waren die Wolken, die Eliseth nach Nexis bringen wollte? Aurian erinnerte sich an das, was sie aus Finbarrs archaischen Büchern über die großräumige Wetterentwicklung gelernt hatte. Die Wolken mußten von Westen kommen. Jetzt, da sie in der Lage war, ihre ganze Kraft auf eine einzige Richtung zu konzentrieren, zwang Aurian ihren Geist weiter und weiter hinaus. Ah! Dort – weit draußen über dem westlichen Ozean …
Eine Explosion von Flammen und ein wilder Jubelschrei der Menge brachten Aurian schlagartig wieder zu sich. Sie klammerte sich einen Augenblick lang an das Geländer, schwindlig und orientierungslos nach der jähen Rückkehr in ihren Körper. Dann sah sie es. Die Wagen brannten! »Forral!« Aurian war sich nicht bewußt, daß sie seinen Namen laut ausgerufen hatte. Die Wolken waren zu weit weg – wie konnte sie eine solche Masse Luft und Wasser rechtzeitig herbekommen?
In diesem verzweifelten Bruchteil einer Sekunde spürte Aurian die Hitze der Flammen, die die Karren verzehrten – spürte den Zorn des Mobs wie eine weitere Wand aus Feuer, die mit pulsierendem Haß auf sie einstürmte. Plötzlich schien das Gesicht Geraints, ihres Vaters, aus lange vergessener Erinnerung ihrer frühesten Kindheit vor ihr aufzuleuchten. Sie konnte seine Stimme hören: »Die Energie nimmt viele Formen an, und ein kluger Mensch kann sie sich in jeder Form zunutze machen. Starke Gefühle – Zorn, Angst, Liebe –, all das kann man nutzen, um die Kräfte der Magie zu speisen …«
Aurian zögerte keine Sekunde, zweifelte nicht einen Moment. Dazu war keine Zeit. Sie ließ die wahnsinnige, wilde Energie des Mobs in sich eindringen, die rohe Hitzeenergie des Feuers – und zog …
Diese Inbesitznahme von Kraft war fremd für sie. Sie verstieß eigentlich gegen den Maguschkodex – aber auf dem Marktplatz war eine solche Menge Energie freigesetzt worden, daß sie sich leicht nehmen konnte, was sie brauchte, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten.
Der schwierigere Teil war, die Energie in sich hineinzuziehen und gleichzeitig ihr Bewußtsein aus sich herauszudrücken. Sie mußte ihren Körper vollkommen vergessen und ihr Bewußtsein beinahe … Sie mußte ein
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