Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
und es war das erste Mal, daß man sie auf solche Weise angesprochen hatte. »Ich …« Verlegen und hilflos breitete sie die Hände aus. »Was sonst hätte ich tun können?«
»Gut gesagt, Lady!« In Vannors Stimme lag tiefe Anerkennung.
Aurian hielt den Zeitpunkt für gekommen, die Frage anzuschneiden, die sie in den letzten Stunden gequält hatte. »Sir«, begann sie.
»Vannor bitte, Lady.« Er lächelte sie an. »Ich habe keine Verwendung für diese phantastischen Titel. Nennt mich einfach nur Vannor.«
Aurian erwiderte sein Lächeln. »Dann nennt Ihr mich Aurian – einfach nur Aurian.« Sie fragte sich, warum ihre Worte ihn so überrascht hatten und warum Forral ihr ein anerkennendes Lächeln schenkte. »Wie dem auch sei«, fuhr sie fort, »ich habe mich gefragt … nun, in diesemHaus gibt es genug zu essen …« Sie zeigte auf die Teller, die auf dem Tisch standen. »Und es kann nicht das einzige Haus sein, in dem das so ist. Warum wurden die Nahrungsmittel nicht gerecht unter den Leuten verteilt? Und warum ist der Mob über den Wagen der Magusch hergefallen?«
Vannor schien die ganze Angelegenheit ein wenig peinlich zu sein, und er war kaum in der Lage, ihrem Blick standzuhalten. Forral, in dessen Zügen sich ein schiefes Lächeln spiegelte, beobachtete das Ganze mit eifrigem Interesse. Endlich fand der Kaufmann seine Stimme wieder. »Lady – Aurian – in gewisser Hinsicht habt Ihr ganz recht. Es herrscht Ungerechtigkeit in Nexis. Die Reichen kümmern sich um sich selbst, und die Armen – nun, sie versuchen, sich durchzuschlagen, so gut es geht. Diejenigen, denen das nicht gelingt, müssen sich für einige Jahre oder – im Falle einer großen Schuld – für ihre ganzes Leben als Leibeigene verkaufen. Das ist nichts anderes als legale Sklaverei!« Er machte ein finsteres Gesicht. »Ich tue im Rat, was ich kann, um das zu ändern – ich war selbst einmal arm –, aber das Schlimme ist, daß ich als Vorstand der Händlergilde eine Menge reicher Leute repräsentiere. Wenn ihnen nicht gefällt, was ich tue, werde ich abgesetzt, und sie werden jemanden an meine Stelle setzen, der sich keinen Deut um die Armen kümmert. Also muß ich mich um einen Mittelweg bemühen.« Er seufzte. »Aurian, ich muß Euch sagen, daß ich im Rat weder vom Erzmagusch noch von Rioch, seiner Marionette, unterstützt werde.« Er warf Forral einen schneidenden Blick zu, und Aurian sah, wie der große Mann plötzlich aufhörte zu lächeln. Dann wandte Vannor sich wieder an Aurian. »Könnt Ihr leugnen, daß Miathan alle Sterblichen, ob arm oder reich, aus ganzem Herzen verachtet?«
Nun war es an Aurian zu erröten. Er hatte recht – Miathan hatte oft etwas in der Art gesagt, und es erfüllte sie mit Unbehagen. Für den Erzmagusch waren die Sterblichen grundsätzlich betrügerisch, faul, unbeholfen und regelrecht gefährlich, und Vannor war der schlimmste von allen. Das heutige Verhalten des Mobs hatten seine Worte bestätigt, und doch – sie sah Vannor an und erblickte hinter seinem schroffen, rauhbeinigen Verhalten einen freundlichen, fürsorglichen und ehrlichen Mann. Verwirrter, als sie es je im Leben gewesen war, wandte sie den Blick von ihm ab. Plötzlich erinnerte sie sich an den unerfreulichen Zwischenfall im vergangenen Jahr, als Meiriel sich geweigert hatte, Vannors Frau bei einer schwierigen Geburt beizustehen. Es sei überflüssig, hatte die Heilerin gemeint, aber die Frau war gestorben. Aurians Gesicht wurde heiß vor Scham. Kein Wunder, daß Vannor wenig für ihre Leute übrig hatte! Plötzlich begann sie zu verstehen, warum der Mob sich ausgerechnet die Magusch als Ziel für seinen Haß ausgesucht hatte. Sie hoffte nur, daß sie mit dem Regen und der Verteilung der für die Magusch bestimmten Nahrungsmittel unter den Sterblichen ein wenig dazu beigetragen hatte, das Gleichgewicht wiederherzustellen.
»Vannor.« Forral erhob sich mit finsterem Blick, und seine schroffe Stimme verriet seinen Zorn. »Aurian ist ein junges und sehr geringes Mitglied des Maguschvolkes. Du kannst ihr nicht die Schuld geben für das, was der Erzmagusch …«
»Das tue ich auch nicht, das tue ich nicht!« Vannor hob die Hände zu einer versöhnlichen Geste. »Ich entschuldige mich, Aurian, wenn ich diesen Eindruck erweckt habe! Was Ihr heute getan habt, ist mehr, als ich erwarten konnte!«
»Und noch etwas«, unterbrach ihn Forral. »Wenn du glaubst, daß ich Miathans Marionette bin, nur weil Rioch das war …«
»Nun, er hat dich in
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