Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
talentiertester Schüler, wie konntest du dich nur auf etwas so unendlich Böses einlassen? Warum hast du dich trotz der großen Fähigkeiten, die dir zur Verfügung stehen, dem Zerstören zugewandt statt dem Heilen?«
Als öffneten sich gewaltige Schleusentore, sprudelte nun alles aus Cygnus heraus – seine Zweifel, seine Hoffnungslosigkeit, seine Gefühle der Unzulänglichkeit, als der grausame Winter über sein Volk hereinbrach. »Du sagst, ich hätte Talent«, rief er verbittert, »aber wäre ich nur von geringstem Nutzen gewesen, hätte ich sie alle retten können. Ich habe sie im Stich gelassen, Elster, ich habe mein Volk im Stich gelassen, als es mich brauchte! Und wenn mein Weg – der Weg, den du mir gewiesen hast – nichts taugte, was blieb dann noch übrig? Ich war so verzweifelt, wollte so dringend irgend etwas tun , und Schwarzkralle schien unsere einzigen Hoffnung zu sein.«
Cygnus sah Elster in die Augen und bemerkte Tränen darin, die in dem trüben Licht der Morgendämmerung einen schwachen Glanz verbreiteten. »O du armer Tor«, flüsterte sie. »Armer, blinder, junger Tor. Warum hast du nicht mit mir gesprochen und deine Zweifel mit mir geteilt? Mein lieber Junge, es gibt keinen Heiler in der ganzen Geschichte, der nicht immer wieder einmal solch düstere Gedanken gehabt hätte.« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt Krankheiten und Grausamkeiten in dieser Welt, die wir nicht heilen können, wie sehr wir es uns auch wünschen mögen; aber das ist noch lange kein Grund, sich diese … Dinge zu eigen zu machen.«
Es war, als hätte sich der Boden unter den Füßen des jungen Arztes geöffnet – als könnte nichts in seiner Welt jemals wieder fest und sicher sein. »Das wußte ich nicht«, flüsterte Cygnus. »Meisterin, ich habe meine Zweifel nicht mit dir geteilt. Du hast mich anfangs nur so widerwillig akzeptiert. Ich wußte nicht, daß du mich verstehen würdest.«
Cygnus fiel ihr zu Füßen auf die Knie und hielt ihr mit zitternden Händen seinen Dolch hin. »Meisterin, ich war ein furchtbarer Narr und Schlimmeres als das.« Seine Stimme klang gebrochen und war selbst in seinen eigenen Ohren nur wie aus weiter Ferne wahrnehmbar. »Nimm mein Leben, ich bitte dich, denn nichts Geringeres kann als Wiedergutmachung für meine Fehler dienen oder den Schmutz des Bösen aus meinem Geist fortwaschen.« Er schloß die Augen und holte tief Luft, während er darauf wartete, daß seine weise alte Lehrerin den Dolch nahm und seiner erbärmlichen Existenz ein Ende bereitete.
»O nein, mein Junge, das ist ja überaus dramatisch, aber es ist immer noch nicht gut genug!« Beim Klang von Elsters freudlosem Lachen riß der junge Heiler erschrocken die Augen auf. Elster nahm den Dolch aus seiner schlaffen Hand und warf ihn mit einer ruckartigen Drehung ihres Handgelenks aus dem Fenster. »Der Tod ist ein zu einfacher Ausweg; du kannst verdammt gut weiterleben und leiden und die Verantwortung für deine Taten übernehmen, so wie wir alle.«
Kopfschüttelnd blickte Elster auf ihren sprachlosen Schüler herab. »Ein ganzes Leben wird nicht lang genug für dich sein, um diesem armen Mädchen Wiedergutmachung zu leisten, also solltest du besser gleich damit anfangen.« Sie zog den widerstrebenden Cygnus auf die Füße und sah ihm tief in die Augen. »Das heißt, falls du das, was du getan hast, tatsächlich wiedergutmachen willst.« Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Cygnus, wenn du dem Hohenpriester gegenüber nach seinen jüngsten Taten noch immer auch nur einen Funken von Loyalität empfindest, dann solltest du dich in Zukunft von der Königin fernhalten – so fern wie nur möglich. Ich erkenne Gift, wenn ich welches sehe, mein Junge. Ich weiß, daß du für Königin Flammenschwinges Tod verantwortlich bist, und ich finde den Gedanken, daß das arme Mädchen von dem Mörder ihrer Mutter versorgt wird, unerträglich. Davon einmal abgesehen: Wenn du Schwarzkralle nach all dem, was er getan hat, immer noch unterstützt, dann hast du es nicht verdient, daß sich überhaupt irgendein anständiger Mensch mit dir abgibt, ganz zu schweigen von der Königin der Geflügelten.« In Elsters Augen brannte ein wildes Feuer.
Der junge Arzt, der sich vor Scham krümmte, konnte dem Blick seiner Lehrerin nicht standhalten. »Ich bin fertig mit Schwarzkralle«, schwor er. »Ich werde alles tun, was du für nötig hältst, um dich davon zu überzeugen.«
Elster sah ihn ernst an. »Tapfere Worte, mein Junge, aber kannst
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