Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
Aerillia führte durch das Land der Katzen, und die Katzen bewachten ihr Territorium auch mit großer Eifersucht vor den Chueva, den einsamen Wanderern ihrer eigenen Spezies, die nicht zur Kolonie gehörten.
Diese bemitleidenswerten Ausgestoßenen führten ein einsames Leben in den Bergen, das für gewöhnlich nicht sehr lange währte. Es waren die Katzen, die die Kolonie nicht haben wollte, die schwachen, die alten und in Zeiten größter Not sogar die ganz jungen. Diejenigen, die sich um die Führung beworben hatten und besiegt worden waren, waren Chueva; diejenigen, die das Gesetz der Kolonie überschritten hatten; diejenigen, die den niedrigsten Rang hatten, die verstoßen worden waren, als die Zeiten hart und die Vorräte gering waren. Von denen würde es jetzt sicher viele geben, dachte Shia. Dieser furchtbare, unnatürliche Winter mußte große Not über die Kolonie gebracht haben, genauso wie er das Himmelsvolk ins Elend gestürzt hatte. Die Sitte, diejenigen Mitglieder der Gesellschaft zu verstoßen, die nur eine Last waren, hatte ursprünglich dem Erhalt der Gemeinschaft gedient, eine Befreiung von den Schwachen und Nutzlosen, damit die Kolonie gesund und stark genug blieb, um in ihrer unerbittlichen Umgebung überleben zu können. Aber vielleicht, so überlegte Shia, ging diese Sitte mittlerweile zu weit. Also wirklich, dachte sie mit einem Anflug von Überraschung, ich bin ja jetzt auch eine Chueva! Ich bin einer von diesen armen, einsamen Aasfressern, ich, die ich einst die Erste war.
Die große Katze wußte, daß sie gemäß den Sitten ihres Volkes gezwungen sein würde, gegen die augenblickliche Erste zu kämpfen, um zu Anvar zu gelangen – und wehe ihr, wenn sie versagte, denn selbst wenn sie den Kampf überleben sollte, würden die Katzen ihr auf keinen Fall gestatten, ihr Land zu durchqueren. Und seht mich doch an, dachte Shia verzweifelt. Eine Chueva, wie sie im Buche steht! Erschöpft und halb verhungert, wie ich bin; welche Chance habe ich da gegen einen so starken Gegner, gegen das mächtigste Weibchen in der Kolonie?
Shia war jetzt seit mehr als einem halben Mond unterwegs. Sie war sorgfältig um die östlichen Grenzen des Territoriums der Geflügelten herumgewandert und hatte schließlich die höchsten Pässe erreicht, die über die Gipfel der nördlichen Bergkette führten. Der Wind hier oben war so stark, daß sie sich kaum auf den Beinen halten konnte, und der Schnee fiel so dicht, daß sie nur mit knapper Not die Enden ihrer Barthaare sehen konnte. Die große Katze zögerte. Einen solchen Sturm konnte doch gewiß niemand überleben? Dennoch sagte ihr Instinkt ihr, daß das Unwetter weiter taleinwärts genauso schlimm sein mußte. Es hatte keinen Sinn, zurückzugehen, denn dort, wo sie hergekommen war, gab es keine Höhle, nichts, was ihr Schutz geboten hätte. Sie war über zerklüfteten, mit Rissen durchzogenen Boden gegangen, vorbei an Abgründen, die sich für eine Katze, die den Weg nicht sehen konnte, vielleicht als tödlich erweisen würden.
»Also weiter!« Shia erschrak über ihre eigene Stimme. »Wenn du hierbleibst, wirst du erfrieren und sterben, und was wird dann aus deinen Menschenfreunden werden? Alles hängt von dir ab.«
Schneeblind und schneetrunken taumelte die große Katze vorwärts und dachte an nichts anderes als daran, einen müden Fuß vor den anderen zu setzen. Wenn sie es nur schaffen konnte, immer weiter zu gehen, hatte sie vielleicht eine Chance.
Stunden vergingen in einem immer gleichen Alptraum. Schritt für Schritt taumelte Shia durch das Wüten des Unwetters und war sich nicht einmal sicher, daß sie sich in die richtige Richtung bewegte, obwohl es deutlich bergauf ging. Irgendein tief in ihr eingegrabener Instinkt bewirkte, daß sie den Stab nicht losließ; ein unbesiegbarer Selbsterhaltungstrieb ließ sie jeden ihrer Schritte vorsichtig abwägen, damit sie nicht blind in eine Felsspalte stürzte. Ansonsten nahm Shia nichts um sich herum wahr. Sie dachte auch weder an sich selbst noch an ihr Volk, sondern an Aurian, an Anvar und an ihren Freund Bohan, der sie immer auch ohne Worte verstanden hatte. Für sie lief Shia weiter, ging sie auf einem Drahtseil des Lebens, in einer Situation, die sie beim ersten Fehltritt das Leben kosten konnte.
Der Schneesturm hörte so plötzlich auf, daß sie es zuerst gar nicht bemerkte. Shia hatte keine Ahnung, wie lange sie sich grimmig durch den Schnee gepflügt hatte, während ihre Augen blind auf ihre
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