Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
verloren, daß ihm sein schlaffes Heisch von den Knochen herabzuhängen schien wie einem Bettler seine Lumpen. Obgleich die Verletzungen des Eunuchen ursprünglich weit weniger ernst gewesen waren als die Eliizars, befand er sich offensichtlich in einem weit schlechteren Zustand. Nereni wußte auch, warum; sie hatte dasselbe schon bei Gefangenen in der Arena beobachtet. Gefesselt und hilflos, mit dem Gefühl, daß er seine geliebte Aurian im Stich gelassen hatte, hatte Bohan einfach den Willen zum Leben verloren.
Während sie dem Schnitter dafür dankte, daß es der Magusch erspart blieb, ihren Freund in diesem schrecklichen Zustand zu sehen, fütterte Nereni ihn zuerst mit seinem Eintopf. Während er aß, tröstete sie ihn mit Nachrichten und Botschaften von Aurian, die ihn ein klein wenig aufzuheitern schienen. Schließlich biß sie die Zähne zusammen und beugte sich über ihn, um seine Wunden zu säubern, was mittlerweile eine widerwärtige Aufgabe geworden war.
Sie mußte ihm furchtbar weh tun. Nereni erkannte an der Starre seines Gesichts und dem Rollen seiner Augen, welche Schmerzen er ausstand. Er saß jedoch einfach da und ertrug geduldig sein Leiden. Kein einziges Mal zuckte er auch nur, bis sie fertig war. Wie war es wohl, fragte Nereni sich, wenn man solche Schmerzen ausstehen mußte und einem selbst die kleine Erleichterung, laut aufzuschreien, verwehrt blieb? Dennoch zwang sie sich, ihr Werk zu beenden. Als es endlich soweit war und sie ihm seine schrecklich zugerichteten Handgelenke verbunden hatte, so gut sie das unter den Fesseln vermochte, zitterten sowohl sie als auch Bohan am ganzen Leib.
Nereni blickte kalt zu Jharav hinüber, der die ganze Zeit über an der Tür Wache gestanden und sie beobachtet hatte, ohne ein Wort zu sagen. »Es ist grausam von euch, ihn so zu fesseln«, fuhr sie ihn an. »Wie sollen seine Wunden jemals heilen mit diesen Eisenbändern, die seine Verletzungen aufscheuern und eitern lassen?«
Harihns Hauptmann ertrug es nicht, ihrem Blick zu begegnen. »Herrin, wende dich mit deinem Zorn an den Prinzen, denn das hier war nicht mein Werk«, sagte er schroff. Dann biß er sich auf die Lippen und warf Eliizar einen beklommenen Blick zu. »Was mich betrifft, so stimme ich dir zu«, murmelte er. »Aber wenn mir mein Leben lieb ist, kann ich nichts tun, und ihr dürft das auch nicht von mir verlangen.«
»Na, komm schon, Nereni, er hat recht«, wandte Eliizar scharf ein. »Du kannst dem Mann keinen Vorwurf daraus machen, daß er Befehle befolgt; wenn du es doch tust, mußt du auch mich für all die Grausamkeiten in der Arena verantwortlich machen, die den armen Kerlen, die unserer Fürsorge unterstanden, dort widerfahren sind.«
Nereni erbebte und wandte sich ab.
Während Nereni ihren Mann und Bohan unten in den engen Kerkern besuchte, die in die Grundfesten des Turms hineingehauen waren, nutzte Aurian ihre Abwesenheit, um auf dem Dach endlich ein wenig frische Luft zu schnappen. Für gewöhnlich reichten die ängstlichen Klagen der kleinen Frau über den Zustand der Leiter, um die Magusch davon abzuhalten, hier heraufzuklettern, aber sie war mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem sie es einfach nicht ertrug, auch nur einen weiteren Tag lang pausenlos die Wände dieser düsteren, engen Kammer anzustarren. Sie hatte das Gefühl, daß sie wenigstens für kurzes Zeit ins Freie mußte, weil sie sonst endgültig dem Wahnsinn anheimfallen würde.
Aurian saß, eingehüllt in ihren Umhang und eine Decke, neben der Brüstung des Turms, so daß die halb zerfallene Mauer sie vor dem schlimmsten Ansturm des Windes schützte. Ab und zu, wenn sie ihrer Gedanken müde war, spähte sie durch einen Riß in den Zinnen hinunter auf die trostlose Landschaft. Durch die schweren Wolken konnte man den Sonnenuntergang nicht beobachten, doch das Licht schwand rapide dahin und ließ die weiten Hänge und die überschatteten Felsspalten immer flacher werden, bis es so aussah, als hätte sich ein gewaltiges, schmutziggraues Leinentuch über die Welt gelegt.
Seit ihrer Gefangennahme waren nun schon viele Tage ins Land gegangen; fünfzehn, sechzehn oder mehr noch, dachte sie – sie war sich nicht mehr sicher. Noch nie zuvor hatte sie sich so verzweifelt und hilflos gefühlt – nicht einmal, als sie sich von den Wunden, die man ihr in der Arena zugefügt hatte, erholte und es ihr unmöglich gewesen war, nach Anvar zu suchen. Damals hatte sie wenigstens gewußt, daß Harihn an ihrer Stelle
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