Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
Dummheit. Wer auch immer da versuchte, sich in den Turm hineinzuschleichen, war wohl kaum ein Freund von Harihn oder dem Erzmagusch. Einen Augenblick lang zog Aurians Herz sich in einer absurden und verzweifelten Hoffnung zusammen. Anvar! Konnte er irgendwie entkommen sein? »Mach dich nicht lächerlich«, sagte ihr der gesunden Menschenverstand. »Anvar ist eine zu kostbare Geisel, als daß es ihm ohne Hilfe gelingen könnte zu entkommen, und Shia kann unmöglich schon bei ihm sein.« Aurian runzelte die Stirn. Konnte es Yazour sein? Ihr Herz machte einen kleinen Satz bei dem Gedanken. Dennoch würde sie gut daran tun, ein wenig argwöhnisch zu sein. Die Magusch hatte keine Waffe zur Hand, und da sie ihr Kind beschützen mußte, kam ein Handgemenge ohnehin nicht in Frage.
Still wie ein Geist schlich sie hinter den halb verfallenen Schornstein, in dem die Rauchabzüge des Turms zusammenliefen. Dankbar für die tröstliche Wärme der groben Steine unter ihren eiskalten Händen, spähte sie hinter dem Schornstein hervor, so daß sie sehen konnte, was sich vor der Brüstung abspielte.
Aurian dankte den Göttern, daß ihre Nachtsichtigkeit ebenso wie ihr Verständnis für fremde Sprachen die einzigen Kräfte waren, die sie während ihrer Schwangerschaft nicht verlassen hatten. Das Dach war mittlerweile in tiefe Nachtschatten gehüllt. Plötzlich löste sich ein noch dunklerer Schatten aus der Düsternis und ließ sich leichtfüßig von der Brüstung heruntergleiten. Aurian versteifte sich. Ein einziger Blick auf die geschmeidigen, fließenden Bewegungen des Mannes sagten ihr, daß er nicht zu Harihns Leuten gehören konnte. Er war groß, wenn auch nicht ganz so groß wie sie selbst, hatte einen anmutigen, drahtigen Körper und dunkles, von silbernen Strähnen durchzogenes Haar, das ihm in Locken um die Schultern fiel. Trotz der Dunkelheit spiegelte es den schwachen Glanz des Schnees wider, dieser weißen Schneeverwehungen, die sich viele Meilen lang um den Turm herumzogen und verhinderten, daß es nachts vollkommen dunkel wurde.
Die Magusch beobachtete ihn mit wachsender Neugier und wagte es kaum zu atmen. Er schlich zur Falltür hin und kniete dort nieder, um in die Kammer hineinzuspähen, die ihr Gefängnis war. Aurian wußte, daß er sie dunkel und verlassen finden würde, denn sie hatte vergessen, Licht zu machen, bevor sie hier heraufkam, und Nereni war noch immer unten bei Eliizar. Der Mann hielt mit zur Seite geneigtem Kopf kurz inne und lauschte auf den Klang möglicher Stimmen. »Lady Aurian?« rief er leise. »Aurian, bist du da unten? Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich komme von deinem Freund Yazour.«
Schnell und schweigend schlüpfte die Magusch aus ihrem Versteck und trat von hinten an ihn heran. »Ich bin Aurian. Wer bist du?« flüsterte sie.
Der Mann sprang mit einem erschrockenen Fluch auf, und Aurian brachte ihn hastig wieder zum Schweigen. Bevor er nach seinem Schwert greifen konnte, hatte sie ihn am Ellbogen gepackt und in den Windschatten des Schornsteins gezerrt. Während sie seinen Arm immer noch umklammert hielt, benutzte sie ihre Nachtsichtigkeit, um sich sein Gesicht genau anzusehen. Es war kein Gesicht, das bei einem Fremden besonderes Vertrauen weckte. Es war eckig, knochig und unrasiert, mit einer vorspringenden Nase und unzähligen Krähenfüßen in den Winkeln der überschatteten, hellgrauen Augen, die er jetzt vor Entsetzen weit aufgerissen hatte, während er immer noch versuchte, sie in der für ihn undurchdringlichen Dunkelheit zu sehen.
Absurderweise bemerkte Aurian, daß ihr Mund sich zu dem ersten Lächeln seit vielen Tagen verzog. Ach du lieber Himmel, dachte sie. Kein Wunder, daß er so aussieht, als hätte er einen Geist erblickt. Wenn sich jemand so an mich herangeschlichen hätte … »Es tut mir leid«, sagte sie zu ihm und war überrascht, zu hören, wie ihr schon wieder eine andere Sprache über die Lippen kam. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin Aurian.«
»Die Göttin sei gepriesen«, hauchte der Mann. »Mein Name …« Einen Augenblick lang zögerte er. »Mein Name ist Schiannath. Yazour hat mich geschickt, damit ich dir helfe, wenn ich kann.«
»Yazour geht es gut?« Aurians Sorgenlast wurde plötzlich ein wenig leichter.
»Er ist verwundet, aber er erholt sich langsam wieder«, erzählte Schiannath ihr mit ernster Stimme. »Die Göttin selbst hat mir befohlen, ihm zu helfen. Ich habe ihn im Paß gefunden. Eine große Katze hatte ihn
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