Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
bedacht, die verlorene Magie des Himmelsvolks wiederherzustellen, ein Umstand, der vielleicht verständlich ist: Aber Schwarzkralles Geist ist zu hoch geflogen und abgestürzt – in die unendlichen Tiefen des Wahnsinns.« Sie zog eine Grimasse. »Jetzt ist er davon überzeugt, in Wahrheit der wiedergeborene Incondor zu sein.«
»Was?« Anvar riß vor Staunen die Augen auf. »Aurian hat mir von Incondor erzählt und davon, daß er für die Verheerung verantwortlich war.« Er schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, daß Schwarzkralle und Miathan einander als Verbündete gewählt haben. Beide sind sie bei ihrem Streben nach Macht dem Wahnsinn verfallen.« Anvar beugte sich vor und umfaßte das Handgelenk der Ärztin. »Elster, du mußt mir helfen zu entkommen.«
»Anvar, das kann ich nicht«, unterbrach ihn Elster mit ausdrucksloser Stimme. »Noch nicht. Ich würde dir ja beistehen, genauso wie Cygnus, aber Schwarzkralle läßt uns keinen Augenblick aus den Augen. Außerdem, was könnten wir schon für dich tun? Die einzige Möglichkeit, hier herauszukommen, ist zu fliegen, und Cygnus und ich haben nicht die Kraft, dich gemeinsam so weit durch die Luft zu tragen, daß du den Kriegern entkommen könntest, die der Hohepriester hinter uns herschicken würde.«
»Was ist mit den anderen Geflügelten?« fragte Anvar. »Es muß doch gewiß einige Leute geben, die nicht hinter dem Hohenpriester stehen?«
»Das wagt niemand. Die Stadt ist gelähmt von Furcht und Mißtrauen, Anvar. Schwarzkralles Spione sind überall, und es ist unmöglich zu sagen, wer zu ihnen gehört und wer nicht. Du mußt verstehen, daß es viele von uns gibt, die sich wünschen, daß die alte Macht des Himmelsvolkes wiederhergestellt wird – was immer es auch kosten mag.« Elster seufzte. »Wenn es Leute gibt, die uns helfen würden, und ich bin überzeugt davon, daß es sie gibt, wagen sie es nicht, sich zu offenbaren. Anvar, ich wünschte wirklich, ich könnte dir helfen, aber du mußt geduldig sein. Die Zeit ist noch nicht reif, gegen Schwarzkralle aufzubegehren. Wenn Cygnus und ich in diesem Augenblick deine Flucht bewirken würden, wären wir nicht mehr in der Lage, die Leute zum Widerstand gegen ihn zusammenzuscharen, nicht ohne die Königin. Und er würde sofort wissen, wer für diese Tat verantwortlich ist. Wir würden unser Leben ganz umsonst verlieren.«
»Aber ihr könntet doch mit mir kommen«, unterbrach Anvar sie. »Die Götter allein wissen, wie sehr wir euch brauchen könnten.«
Elsters Federn zitterten. »Was? Unsere rechtmäßige Königin im Stich lassen? Ohne die ärztliche Kunst von Cygnus und mir würde Rabe gewiß sterben.« Als sie den Zorn in Anvars Augen aufblitzen sah, erhob sie sich rasch. »Dir mag es gleichgültig sein, ob die Königin überlebt oder nicht, Anvar, aber mir ist es das nicht. Das darf es nicht sein.« Als sie sah, daß er dagegen protestieren wollte, bereitete sie schnell ihren Abschied vor. »Ich werde zurückkehren, sobald ich kann«, versprach sie und schwang sich mit einer Hast aus dem Höhleneingang, der recht unziemlich war für eine Meisterin und Ärztin.
Es war immer noch dunkel, obwohl ein schwaches Glühen der Morgendämmerung bereits den bleigrauen Himmel jenseits der Berge erhellte. Elster schwebte empor, spürte den eisigen Wind durch ihre Federn pfeifen und flog eine weit ausholende Kurve, die sie ein gutes Stück von dem Felsen wegbrachte. Zu ihrer Erleichterung waren zwischen den Türmen der Stadt immer noch einige verstreute Lichter zu sehen, die es ihr ermöglichten, ihre Orientierung wiederzufinden und nach Hause zurückzukehren. Sie haßte es, des Nachts fliegen zu müssen – man konnte die Gefahren solchen Tuns gar nicht hoch genug einschätzen –, aber wenn sie Anvar unbemerkt besuchen wollte, war das die einzige Zeit, zu der sie es tun konnte, während die anderen Geflügelten sicher in ihren Betten lagen.
Elsters Heim lag in einem halb zerfallenen Türmchen, das seitlich an einem uralten Gebäude im unteren Teil von Aerillia emporragte. Zu Flammenschwinges Zeit waren die Unterkünfte der Ärztin großartiger gewesen und näher beim Palast, aber jetzt fühlte sie sich sicherer an einem verborgenen, einsameren Ort. Einige Löcher im Dach und etwas Zugluft waren durchaus zu ertragen, wenn sie auf diese Weise dem Hohenpriester nicht allzu oft begegnen mußte.
Nachdem sie vorsichtig auf ihrer verschneiten Veranda gelandet war, drückte Elster die Tür zu ihren Räumen auf und
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