Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
unglaublichen Bauten erblüht. In der Vergangenheit waren der Moldan diese dahinflitzenden Geflügelten gleichgültig gewesen, die sich nach dem Abschied der Dwelvenbevölkerung auf ihr niedergelassen hatten. Damals waren sie ihr als nichtige und sehr vergängliche Wesen erschienen. Jetzt verspürte sie zum ersten Mal ein Gefühl selbstgefälligen Stolzes angesichts ihrer Errungenschaften. Abgesehen von diesem gräßlichen Tempel auf ihrem Gipfel hatten die Werke der Geflügelten viel dazu beigetragen, ihrer eigenen, natürlichen Schönheit neuen Glanz zu verleihen.
Voller Bedauern wandte die Moldan ihre Aufmerksamkeit von der Betrachtung Aerillias ab. Und genau in diesem Augenblick spürte sie es – das langsame, unstete Näherkommen einer Quelle unglaublicher Macht.
Im oberen Teil der Stadt klapperten Teller und Tassen, und alle möglichen Dinge fielen von den Regalen herunter, als eine Mischung aus Entsetzen und Entzücken wie ein Schaudern durch die massige Gestalt der Moldan lief. Die gefangene Königin Rabe in ihrem einsamen Turm warf sich im Schlaf auf die andere Seite und schrie vor Schmerz auf. Im Tempel des Yinze blickte Schwarzkralle stirnrunzelnd von dem Opfer auf, das er gerade hatte töten wollen, als das bedrohlich wirkende, schwarze Bauwerk auf seinen gewaltigen Grundfesten erschauderte. In dem älteren Viertel der Stadt geriet ein bereits halb zerfallener Turm ins Wanken und stürzte in einer Wolke von Schnee auf das Gesicht des Berges.
Die Moldan schenkte den winzigen Wesen, die ihre Hänge heimsuchten, keine Beachtung. Ihre ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das Herannahen des Erdenstabs.
»Anvar? Anvar, kannst du mich hören? Zum letzten Mal, antworte mir endlich!« Mit gespannt erhobenem Kopf wartete Shia viele Atemzüge lang, aber es kam keine Erwiderung. Verzweifelt wandte die Katze sich wieder an ihre Kameraden. »Der Mensch muß eingeschlafen sein«, seufzte sie. »Ich bekomme ihn nicht wach.«
Khanu schüttelte seine Mähne. »Und was machen wir jetzt?« wollte er wissen.
Hreeza hob eine gewaltige Pfote und brachte ihn mit einem Hieb hinter die Ohren zum Schweigen. Er stürzte sich mit zornig blitzenden Augen auf sie, aber Shia gebot seiner Rachsucht mit scharfen Worten Einhalt. Sie wußte, daß die große Katze gewaltige Anstrengungen unternahm, um nicht den Mut zu verlieren, aber sie wußte auch, daß Hreeza, ebenso wie sie selbst, entsetzt über das war, was sie am Ende ihrer Reise vorgefunden hatten.
Wäre Shia ein Mensch gewesen, hätte sie vielleicht mit den Göttern über die Ungerechtigkeit des Ganzen gehadert. Der lange, beschwerliche Marsch über die steinernen Knie und die verschneite Brust des Aerilliaberges war schwer und aufreibend gewesen und hatte sie mehrere harte, hungrige Tage gekostet, in denen sie im Schutz der Dunkelheit gewandert waren, um den scharfen Augen ihrer gefiederten Feinde zu entgehen. Während sich die Katzen mühsam ihren Weg den Aerilliaberg hinauf bahnten, veränderte sich die Landschaft immer wieder. Die bebauten Hänge der Geflügelten hatten steilen, mit Fichten und Schierlingstannen bewaldeten Tälern Platz gemacht, die ihrerseits in ein karges, einsames Land übergegangen waren, in dem es nur hoch aufragende Felswände und schneebedeckte Hügel gab.
Shia und ihre Kameraden mußten feststellen, daß sie immer langsamer vorankamen, je tiefer der Schnee und je kälter die pfeifenden Winde wurden. Trotz ihrer dicken Felle litten die Katzen grausam unter Kälte und Hunger, denn alle Tiere waren schon vor langer Zeit von den unwirtlichen oberen Hängen des Gipfels geflüchtet. Grimmig kämpften sie sich immer weiter. Khanu und Hreeza wurden nur von Shias Drohungen aufrechtgehalten, die keinen Zweifel, daran ließen, daß Shia sie gnadenlos dort zurücklassen würde, wo sie gerade lagen, falls sie nicht mehr weiterlaufen könnten.
Als an diesem Tag die Dämmerung nahte, taumelten die Katzen im Gänsemarsch hintereinander durch eine schmale, von Schneemassen erstickte Schlucht. Als sie den Gipfel erreichten, fielen die gezackten Bergspitzen zu ihrer Rechten schräg ab, so daß die niedrigeren Berge der nördlichen Gebirgskette vor ihnen lagen. Die zerklüfteten, schneebedeckten Gipfel schienen wie Inseln in einem Meer aus blutroten Wolken zu treiben. Der glimmende Ball der gerade erst aufgestiegenen Sonne lauerte jenseits der zusammen-gekauerten Schultern der Berge und beleuchtete dichte, schwere Wolken, die am Himmel über ihnen
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