Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
aufzogen.
Die wetterfühlige Hreeza stieß ein tiefes, kehliges Knurren aus. »Was ich da sehe, gefällt mir überhaupt nicht«, murmelte sie.
»Wenn dir das schon nicht gefällt, würde ich vorschlagen, du schaust einmal in die andere Richtung.« Shias Gedankenstimme klang erstickt. Die alte Katze wandte sich von dem unheilvollen Sonnenaufgang ab, und der Atem stockte ihr in der Kehle. Sie blickte hinauf, und hinauf und hinauf auf steil in die Höhe ragende Felswände …
»Und was machen wir jetzt?« fragte Khanu noch einmal, wobei er genau aufpaßte, daß er Hreeza nicht zu nahe kam. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir dort hinaufklettern sollen.«
»Ich weiß es nicht.« Shia funkelte den Erdenstab wütend an, der auf dem verschneiten Boden lag, und sie mußte gegen den aus Wut und schierer Verzweiflung geborenen Drang ankämpfen, das verflixte, erbärmliche Ding so zu zerkauen, daß nur noch Splitter davon übrigblieben. Ihr Atem wehte wie eine kristallene Wolke vor ihrem Maul, als sie einen tiefen Seufzer ausstieß. »Ich nehme an, wir werden warten müssen, bis Anvar aufwacht, vielleicht kennt er ja einen Weg nach oben.«
Hreeza blickte abermals auf die glatten, steilen Felswände, die jäh in die Höhe schossen und hoch oben in den Wolken verschwanden. Shia spürte einen seltsamen Widerwillen in den Gedanken ihrer alten Freundin und fragte sich, was nun kommen mochte. »Also?« fragte sie endlich. »Wirst du den Rest des Tages an diesem Gedanken herumkauen wie an einem alten Knochen, oder wirst du ihn ausspucken und mit uns teilen?«
Die alte Katze wich ihrem Blick aus. »Bist du dir wirklich sicher«, fragte sie langsam, »daß dieser Mensch nur schläft? Was ist, wenn er tot ist?«
Flammen schossen aus den Tiefen von Shias Augen. »Damit werde ich mich nicht abfinden.« In ihrer Stimme schwang deutlich eine stille Drohung mit. »Aurians Feinde brauchen Anvar als Geisel. Warum sollten sie ihn töten?«
»Und doch spüre ich deine Zweifel«, beharrte Hreeza. »Es kann alles mögliche dort oben geschehen sein. Ein Unfall – eine Änderung ihrer Pläne … Hier oben zu bleiben, wo wir dem Wetter und unseren Feinden hilflos ausgesetzt sind, ist reiner Wahnsinn.«
»Anvar ist nicht tot!« Shia bleckte die Zähne und ging drohend auf die alte Katze zu.
»Warum warten wir nicht einfach eine Weile ab und sehen, was passiert?« vermittelte Khanu zwischen den beiden zornigen Weibchen. »Schließlich«, fügte er hinzu, »sind wir nicht den ganzen Weg hier heraufgekommen, um so schnell aufzugeben. Und während wir darauf warten, daß Shias Mensch aufwacht, könnten wir doch die Ausläufer dieses Felsens erkunden. Vielleicht gibt es weiter hinten eine Stelle, von der aus wir leichter hinaufklettern können.«
Shia sah ihn dankbar an. Khanu entwickelte langsam sowohl die schärferen Sinne eines jagenden Weibchens als auch die sturmerprobte Weisheit eines älteren, erfahreneren Tieres. Gerade in diesem Augenblick war sie ihm für seine Einmischung besonders dankbar. Es war von größter Wichtigkeit, daß Anvar nicht mehr in der Macht des Erzmagusch war, wenn Aurians Kind geboren wurde, so daß die Magusch frei war, alles zu tun, um das Leben ihres Jungen zu retten. Der langsame und schwierige Marsch hatte in der großen Katze ein Fieber ängstlicher Ungeduld geweckt, aber das war keine Entschuldigung für ihren unvernünftigen Ärger über Hreezas Einmischung. Mit unverbrüchlicher Treue war ihr die alte Katze den ganzen Weg über gefolgt, nur um sich am Ende durch dieses letzte, unbesiegbare Hindernis bezwungen zu sehen. Selbst wenn Khanu und ich eine Möglichkeit finden können, diesen Felsen hinaufzuklettern, dachte Shia, wird es Hreeza nicht möglich sein, und das weiß sie. Das ist der wahre Grund für ihre Verstocktheit; sie kann die Demütigung, zurückgelassen zu werden, nicht ertragen.
»Glaubst du, es gibt vielleicht einen einfacheren Weg dort hinauf?« wollte Hreeza von Khanu wissen. Oh, ich danke dir dafür, dachte Shia, daß du meiner alten Freundin, wenn auch nur für kurze Zeit, neue Hoffnung gibst.
Khanu ließ seine Schnurrbarthaare zu einem Katzengrinsen nach vorn zucken. »Warum nicht?« sagte er munter. »Ich hoffe jedenfalls, daß es einen besseren Weg gibt, denn du magst ja in der Lage sein, dich da hinaufzuquälen, aber was mich betrifft, geht die Sache doch deutlich über meine Kräfte.«
»Na, dann laß uns endlich anfangen, Jungchen, und versuchen, einen Weg zu finden, der
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