Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
hinaufklettern, bevor diese Kälte mir noch den letzten Rest meiner Kraft nimmt.«
»Shia, das kannst du nicht tun! Niemand könnte hoffen, diesen Felsen zu bezwingen«, protestierte Hreeza. »Willst du denn für nichts und wieder nichts sterben?«
»Ganz im Gegenteil.« Shia hielt dem Blick der alten Katze ohne zu schwanken stand. »Hreeza, diese Angelegenheit ist wichtiger als unser aller Leben. Anvar muß den Stab bekommen, sonst sind nicht nur meine Kameraden verloren, sondern die ganze Welt.«
Shias stille Entschlossenheit machte Hreeza sprachlos. Sie wandte den Blick ab. »Na schön«, murmelte sie, und ihre Bekümmerung ließ ihre Gedankenstimme gedämpft klingen. »Du mußt tun, was du tun mußt, meine Freundin. Aber, Shia, sei vorsichtig. Wenn du bei diesem Versuch dein Leben verlierst, muß ich dich rächen, und diese neuen Feinde, die du dir da geschaffen hast, sind eindeutig zuviel für eine alte Katze wie mich.«
»Shia, ich komme mit dir«, erbot sich Khanu eifrig.
Die große Katze funkelte das jüngere Männchen wütend an. »Das wirst du nicht tun!«
»Warum nicht?« widersprach Khanu. »Wenn du es kannst, kann ich es auch, und du wirst mich brauchen, wenn wir den Gipfel erreichen. Auf diesem Berg da gibt es viele Feinde für uns und für Anvar.«
Sie seufzte. »Du hast vielleicht recht. Aber hör mich erst an. Ich habe einen guten Grund dafür, warum ich will, daß du zurückbleibst, denn falls ich versage und abstürzen sollte, mußt du an meine Stelle treten und an meiner Statt mit dem Stab hinaufklettern.«
Khanu riß die Augen weit auf, sagte aber nichts. Shia betrachtete sein Schweigen als Einwilligung, wandte sich mit leisen Abschiedsworten von ihren Freunden ab und begann zu klettern.
Anvar, der hoch oben in seiner Höhle vor dem Schneesturm sicher war, war vollkommen verzweifelt. Er fluchte und fuhr sich müde mit der Hand über die Augen. Während seiner Krankheit hatte der Magusch jegliches Zeitgefühl verloren und wußte nicht mehr, wie lange er in diesem verfluchten Loch zugebracht hatte, aber er war sicher, daß die Geburt von Aurians Kind unmittelbar bevorstehen mußte. Lediglich die ungeheure Maguschsturheit, die ihm wie allen anderen seiner Rasse innewohnte, hatte ihn während der vergangenen Tage davon abgehalten, die Hoffnung aufzugeben, und Shias plötzliches Auftauchen mit dem Stab war ihm als das reinste Wunder erschienen. Jetzt jedoch sah es so aus, als hätten ihm die launischen Götter einen Kelch der Hoffnung dargeboten, nur um ihn ihm abermals zu entreißen.
Shias Gedanken waren immer schwächer geworden, als die Katzen sich durch das grausame Unwetter quälten und gegen den unerbittlichen Ansturm des Windes kämpften, der den Schnee auf ihrem Weg zu immer höheren Hindernissen auftürmte. Anvar, der auf dem steinernen Boden seiner Höhle hin- und herlief, haderte mit seiner Hilflosigkeit. Bei den Göttern, wenn ich ihnen doch nur helfen könnte, dachte er. Es mußte doch etwas geben, was er tun konnte. Dann zuckte die rauhe, alte Stimme einer fremden Katze durch seine Gedanken, und als wolle sie noch zu seinen Qualen beitragen, überbrachte sie ihm eine Botschaft, die ihm das Blut in den Adern erstarren ließ.
»Mensch, wir können keinen anderen Weg nach oben finden. Shia hat beschlossen, zu dir hinaufzuklettern, also wäre es nur vernünftig, wenn du eine Weile lang nicht versuchen würdest, mit ihr zu sprechen. Sie wird ihre ganze Konzentration brauchen, wenn sie überleben soll.«
»Halte sie auf! Das darf sie nicht tun«, rief Anvar. »Es ist unmöglich, diesen Felsen zu erklimmen!« In Gedanken hörte er das trockene, freudlose Kichern der Katze.
»Es ist zu spät, um sie aufzuhalten. Sie ist bereits aufgebrochen. Aber vergiß nicht, daß etwas, was für einen Menschen unmöglich ist, für eine Katze nicht unbedingt auch unmöglich sein muß. Ihre Klauen können auch die winzigsten Risse im Felsen finden, und sie kann ihre Glieder weiter strecken, als es einem kleinen Menschen möglich wäre.« Dann hörte Anvar, wie sich ein Unterton des Zweifels in die Stimme der alten Katze hineinstahl. »Das heißt, wenn ihre Kraft dazu reicht.« Hreezas Worte verklangen in bekümmertem Schweigen.
Anvar eilte zum Höhleneingang und beugte sich gefährlich weit hinaus. Er versuchte, durch die dicken Wolkenschichten und die wirbelnden Schneeschleier hindurch nach unten zu spähen. Es war hoffnungslos. Der Sturm raubte ihm vollkommen die Sicht. Nachdem er eingesehen
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