Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
daß er den Stab benutzte. Und doch war das Artefakt in seiner Hand lebendig geworden und flammte mit einem weißen, leuchtenden Licht auf. Ein hoher, dünner Schrei hallte durch den Tunnel. Dampf stieg über den Facettenäugen der Kreatur auf, aus denen gleich darauf auch grünlicher Eiter floß. Die federnbesetzten Fühler sanken zu Boden, und unzählige Beine scharrten kraftlos auf dem Stein. Die Bewegungen des gräßlichen Geschöpfes wurden langsamer und kamen schließlich ganz zum Erliegen, während sein Kopf an der gegenüberliegenden Wand des Tunnels niederfiel. Und doch wußte Anvar, daß er das Tier nur verletzt hatte. Daher hob er sein Schwert weit über den Kopf und stieß die Klinge bis zum Griff in eines der dunkel glitzernden Augen.
Die gewaltige Kreatur krümmte sich und warf den Magusch zur Seite; aber ihr Todeskampf war nur kurz. Schon bald zog sie sich zurück in die Tiefen des Tunnels; ihre Fähigkeit, durch Stein zu gehen, war plötzlich verschwunden. In dem ersterbenden Licht des Stabs konnte man noch das drohende Glitzern eines der riesigen Facettenaugen sehen. Dann erlosch sein Licht für immer. Der gegabelte Schwanz scharrte noch einmal über den Stein und blieb dann reglos liegen. Als die letzten Funken von Anvars Energie versiegten, erlosch auch das Licht des Erdenstabs.
»Ist es tot?« fragte Khanu mit zitternder Stimme.
»Bei den Göttern, das will ich doch hoffen«, stieß Anvar schwer atmend hervor. »Ich glaube nicht, daß ich so einen Kampf noch einmal durchstehen würde.« Mühsam richtete er sich ein wenig auf, so daß er schließlich mit dem Rücken gegen die schleimige Wand des Tunnels gelehnt dasaß. »Shia, bist du da? Ist mit dir alles in Ordnung?« Er zitterte, sowohl von der Kälte als auch von den Nachwirkungen seines schrecklichen Erlebnisses.
»Beides.« Die große Katze klang ziemlich gedämpft. Nach einer Weile konnte Anvar genug Energie zusammenraffen, um den Stab wieder zu entzünden. Khanu war ganz in seiner Nähe, direkt an der Wand gegenüber, aber er brauchte ein wenig länger, bevor er auch Shia sehen konnte, die gerade über die sterbenden Glieder des toten Ungeheuers kletterte. »Ich hoffe aus ganzem Herzen«, murmelte sie, »daß es in diesem Berg nicht noch mehr von diesen Viechern gibt.«
Anvar schauderte bei dem Gedanken – aber nachdem er schon so weit gekommen war, würde er nicht einfach aufgeben. Daher raffte er die letzten Funken seiner Kraft zusammen, erhob sich mühsam auf die Füße, zwang sich aufzustehen und hielt den Stab hoch über den Kopf.
Die Moldan von Aerillia war sowohl erschrocken als auch erbost darüber, daß ihr Angriff so kläglich gescheitert war. Sie hatte all ihre Kraft in die Schöpfung ihrer Kreatur geworfen und würde eine ganze Weile nicht die Kraft haben, ein anderes Tier auf solche Größe anschwellen zu lassen.
Offensichtlich hatte sie die Macht dieses Zauberers unterschätzt. Sie schauderte, als ein neuer Schmerz ihre Eingeweide verzerrte. Hatte dieser elende Kerl die Absicht, sich bis nach oben zu diesem gräßlichen Bauwerk auf ihrem Gipfel durchzukämpfen? Zum ersten Mal stellte die Moldan sich die Frage, warum er das alles tat. Die Kriege und Auseinandersetzungen der jämmerlichen kleinen Himmelsleute hatten sie im Laufe der Jahrhunderte kaum interessiert: seit der Verheerung , bei der sie ihre magischen Kräfte verloren hatten. Seit damals waren die Himmelsleute für sie kaum mehr von Bedeutung gewesen als Fliegen oder Läuse. Jetzt jedoch, da es um einen Zauberer ging, ganz zu schweigen von dem Stab der Erde …
Was hatte dieser Zauberer vor? Und wie konnte sie das zum Vorteil der Moldan nutzen? Die aerillianische Moldan versank in tiefes Grübeln und versuchte, das qualvolle Hämmern in ihren Eingeweiden zu ignorieren, das ihren Gedankengang wieder und wieder zu verwirren drohte. Soviel stand fest: Auf freiem Fuß würde der Zauberer, solange er den Stab der Erde besaß, immer eine Bedrohung für sie bleiben. Ihr Hauptproblem bestand darin, daß das Artefakt der Hohen Magie ihn viel mächtiger machte, als sie selbst es war. Ohne den Stab war sie nicht in der Lage, ihm den Stab abzunehmen – eine lächerliche und scheinbar unlösbare Situation.
Die Moldan richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Leib, auf das winzige Geschöpf, das über so ehrfurchtgebietende Macht verfügte. Nun gut – so sei es. Für den Augenblick konnte sie nur zusehen und abwarten, bis sie die Pläne des Zauberers
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