Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
durchschaute. Wenn Gewalt ihr nicht half, dann mußte sie eine List ersinnen, um den Stab in ihre Gewalt zu bekommen.
Das Wimmern von Incondors Klagelied übertönte das gedämpfte, unzufriedene Gemurmel der Gemeinde im Tempel. Schwarzkralle spähte durch die dunklen Vorhänge hinter dem großen Altar, überrascht und äußerst erfreut darüber, daß der große Raum sich früh und schnell füllte. Immer mehr Himmelsleute drängten in das geräumige Mittelschiff und füllten nun sogar die luftigen Galerien weiter oben. Endlich! dachte der Priester; endlich hatten die Geflügelten seine Herrschaft wohl doch akzeptiert. Flammenschwinges Tod hatte offensichtlich den Ausschlag gegeben, ganz so, wie er es sich erhofft hatte.
Schwarzkralle wartete in dem engen Vorraum hinter den goldbestickten Vorhängen, während seine niedrigeren Priester den Ritus der Anbetung für den Vater der Himmel vollzogen. Seine prächtig bestickten Amtsroben raschelten steif, und ihr Gewicht lastete schwer auf seinen Schultern, während er in dem engen Raum auf und ab lief. Die gemurmelten und gesungenen Antworten schienen sich endlos hinzuziehen, und es fiel dem Hohenpriester immer schwerer, seine Ungeduld angesichts solchen Unsinns im Zaum zu halten. Macht war das einzige, was eine Rolle spielte; wenn der Aberglaube die Himmelsleute jedoch zu beschwichtigen vermochte, überlegte Schwarzkralle, dann mußte wohl der Zweck die Mittel heiligen.
Endlich war der Augenblick für Schwarzkralles eigenen Anteil an der Zeremonie gekommen. Als er sein Stichwort hörte, öffnete er die Holztür im hinteren Teil der Kammer, und zwei Tempelwachen führten die Ärztin herein. Elsters Gesicht war totenbleich, und sie biß die Zähne zusammen. Schlaff hing sie zwischen ihren beiden Wachen, und ihre Füße schleiften über den Boden; sie weigerte sich, ihnen auch nur im geringsten dabei zu helfen, sie zum Altar zu schaffen, wo bereits das Messer auf sie wartete.
Als sie an Schwarzkralle vorbeikam, kehrte das Leben für einen kurzen Augenblick in Elsters steinernes Gesicht zurück. »Möge Yinze dich in ewige Verdammnis stürzen!« fauchte sie. Dann blitzten ihre Augen noch einmal auf, und sie spuckte ihm ins Gesicht.
Elster hatte die Befriedigung, zu sehen, wie der Hohepriester vor ihr zurückschrak. Er wollte natürlich nicht das Gesicht vor den Wachen verlieren, indem er seinen Ekel zeigte, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als stehenzubleiben und sie wütend anzufunkeln, während die schleimige Spur ihres Speichels über sein Kinn tröpfelte. Elster lächelte grimmig. In Anbetracht des Schicksals, das sie erwartete, schien es ein armseliger Sieg, den sie errungen hatte, aber es war trotzdem ein befriedigendes Gefühl.
Als die Wachen sie durch die Vorhänge in den Tempel zogen, erfüllte die Reaktion der versammelten Gemeinde sie plötzlich mit neuem Mut. Wie ein Mann erhob sich die Menge und jubelte ihr zu. Elster blinzelte verwirrt. Seit Schwarzkralle die Macht ergriffen hatte, hatte sie den Tempel absichtlich gemieden, aber nach dem, was sie gehört hatte, war ihr Empfang bisher ohne Beispiel. Noch besser sogar war die Reaktion der Menge, als Schwarzkralle erschien. Die Ärztin konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als die Geflügelten bei Schwarzkralles Auftritt zischten und ihn auspfiffen.
Ohne auf den Befehl des Hohenpriesters zu warten, schwärmten die Tempelwachen aus und versuchten, die Störenfriede in der Gemeinde zu finden und zu isolieren. Die ruhelose Menge schwieg plötzlich, aber hinter ihrem Schweigen lag ein geradezu spürbarer Zorn. Die Spannung lastete schwer auf dem Tempel, wie eine drohende Sturmfront. Noch während die Wachen sie auf dem Altar fesselten, sah die Ärztin den Ausdruck verblüfften Unwillens auf Schwarzkralles Gesicht.
Unter Verzicht auf jedes weitere Zeremoniell trat der Hohepriester mit hoch erhobenem Messer zu ihr. Für Elster verlangsamte sich die Zeit zu einem bösartigen Kriechen. Die Welt bestand plötzlich nur noch aus lebhaften Einzelheiten, von denen ihr Gehirn jede einzelne mit schmerzlicher Deutlichkeit wahrnahm. Jede Pore in Schwarzkralles Gesicht, jede Linie von Ehrgeiz und Unzufriedenheit, die seine Haut durchzog, sprang ihr wie eine Schriftrolle entgegen, ein geöffnetes Buch, in dem sie mühelos lesen konnte. Elster spürte, wie die Ruhelosigkeit der Menge auf sie übergriff. Der Puls so vieler Herzen, die in einem gemeinsamen Ansinnen schlugen, trommelte wie eine vibrierende
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