Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
Felsbrocken am Eingang des Passes versteckte, hatte für die bedrohlichen Berge keinen einzigen Blick übrig. Ihn beschäftigten vielmehr die Fremden, die im Turm Zuflucht gesucht hatten. In seinem Umhang aus silbrigen Wolfsfellen war er vor dem Hintergrund aus Schnee und Schatten fast unsichtbar, genauso wie sein Pferd Iscalda, die weiße Stute, die geduldig hinter ihm stand und sich weniger bewegte als der sie umwirbelnde Schnee, der sich in dichten Schneewehen zu ihren Füßen stapelte.
Schiannath starrte den Turm an, der sich auf dem bewaldeten Hügel gegen den Himmel abzeichnete, und fluchte bitterlich. Was für ein widerliches, unglaubliches, unmögliches Pech! Das verlassene Gebäude war das beste seiner Refugien, das einzige, in dem er und Iscalda mit einiger Behaglichkeit vor diesem tödlichen und unnatürlichen Winter Schutz finden konnten. Seine anderen Zufluchtsorte, entdeckt nach monatelangem Durchwandern dieser unwirtlichen Berge, waren entweder dichtes Unterholz im Wald oder Höhlen: Die ersteren waren mitleiderregend unzureichend in diesem bitterkalten Wetter und die letzteren feucht und zugig und hatten überdies die Neigung, sich mit erstickendem und verräterischen Rauch zu füllen, sobald ein Feuer entzündet wurde. Er und Iscalda hatten in diesem Unwetter eine lange, gefährliche Reise unternommen, um hierher zu gelangen, und sie waren durchnäßt, halb erfroren und unendlich erschöpft angekommen – nur um entdecken zu müssen, daß der Turm bereits besetzt war.
Noch einmal verfluchte Schiannath die Eindringlinge, wer immer sie auch sein mochten. Und wer konnte das überhaupt sein? Die Xandim kamen niemals so weit nach Süden. Dieser Teil des Landes gehörte nicht mehr zu ihrem Herrschaftsbereich, was auch der Grund dafür war, warum er sich hier aufhielt. Der Gesetzlose zuckte bei der Erinnerung an seine Verhandlung und Verbannung zusammen. Das stotternde, halb blinde junge Windauge hatte damals die Zaubersprüche ausgesprochen, die seinen Namen aus dem Wind löschten und aus der Erinnerung des Stammes. Er biß sich auf die Lippen, um seine Schande und seinen Schmerz nicht laut hinauszuschreien. O Göttin, warum habe ich das getan? dachte er unglücklich. Warum war es so wichtig für mich, Rudelfürst zu werden?
Wie war das alles nur gekommen? Warum war er immer ein Außenseiter gewesen – einsam in einem Volk, in dem der Stamm alles war, heimlichtuerisch unter Menschen, die sonst alles teilten? Immer wieder hatte ihn sein scharfer Verstand in Schwierigkeiten gebracht. Er war klüger als alle anderen zusammen, und dafür hatten sie ihn gehaßt. Nun sollten sie doch verrotten! Verflucht sollte seine Mutter dafür sein, daß sie ihn bei seinem Vater in der Küstenniederlassung zurückgelassen hatte, als sie sich von ihm trennte, während sie die Kinder ihrer anderen Gefährten mit in die Berge nahm! Wenn das nicht gewesen wäre, hätte er mit seinen Brüdern und mit dem Stamm aufwachsen können. So wie die Dinge lagen, war er jedoch, als er nach dem Tod seines Vaters in die Festung kam, nicht in der Lage gewesen, sich dort einzufügen; wieder und wieder war er wegen seines wilden, undisziplinierten Verhaltens mit dem Rudelfürsten aneinandergeraten, bis ihm der einzige Ausweg darin zu liegen schien, sich von Phalias und dessen ermüdenden Regeln und Beschränkungen zu befreien und selbst Rudelfürst zu werden. Nur seine Schwester Iscalda hatte immer zu ihm gehalten und hatte alles versucht, um ihn von dieser Wahnsinnstat abzuhalten – und als ihr das nicht gelungen war, hatte sie darauf bestanden, seine Verbannung zu teilen.
Trauer durchbohrte Schiannaths Herz wie ein Messer. Die Xandim kannten kein Todesurteil für die Mitglieder ihrer eigenen Rasse; dieses Schicksal war Fremden und Spionen vorbehalten. Statt dessen hatten sie etwas Schlimmeres getan – sie hatten ihm seinen Namen genommen und ihn mit Flüchen und Steinen fortgejagt. Das Windauge hatte Iscalda dafür, daß sie Phalias getrotzt hatte, in ihre Andergestalt verwandelt und in diesem Zustand für alle Zeiten eingesperrt. Jetzt war sie nur noch ein gewöhnliches Pferd mit den Bedürfnissen und Instinkten – und dem Verstand – eines Tieres.
Die Kehle schnürte sich ihm mit nicht geweinten Tränen zu, und der Gesetzlose blickte über seine Schulter hinweg zu der weißen Stute und wünschte, er könnte irgendwie von seinen schmerzlichen Erinnerungen erlöst werden. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er in seiner Verzweiflung
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